Wüstengeschichten

Leben in Weite

Die Wüste ist ein Urbild des Menschen. Jeder Reisende, der schon einmal unter dem Sternenhimmel einer Wüste übernachtet hat, kennt ihre Faszination und spirituelle Ausstrahlung.
Die Wüste ist schrecklich und schön: Sie ist einerseits ein Ort der absoluten Einsamkeit, der Weite, der Hitze, Dürre und Todesgefahr. Sie ist ein atemberaubend schöner, aber auch ein unwirtlicher Ort. Sie ruft Zweifel und Ängste hervor und zeigt den Menschen ihre Orientierungsbedürftigkeit auf.

Andererseits strahlt die Schönheit und Reinheit der Landschaftsformen auch einen Zauber aus, der mit Freiheit und Grenzenlosigkeit verbunden ist und viele Menschen zum Nachdenken anregt. Wüste ist seit alters her ein Ort der Ruhe und unglaublichen Stille, der Sammlung und Besinnung.

Ein Leben in den Weiten der Sahara stellt die Nomadenfamilien vor große Herausforderungen.

Es lohnt sich, einen Blick in die ‚Gesichter der Wüste‘ zu werfen und die Lebensgeschichten dieser Menschen, die sich darin spiegeln, zu erahnen.

Bir Rejeb – der Brunnen

Ein Brunnen in der Wüste ist immer ein Ort der Verheißung und der Erfüllung – ein Ort, der Leben verspricht. ‚Wasser ist Leben, Wasser ist die Seele, Wasser spendet Leben und alles hängt vom Wasser ab.‘ Aman Iman bringt mit diesen Worten die Bedeutung des Wassers in der Wüste auf den Punkt. Bir Rejeb – ein Brunnen nahe der algerischen Grenze – ist ein wahrlich magischer Ort. Umgeben von einem weiten Kreis hoher Dünen steht der Brunnen im Zentrum. Seinem Sog und seiner atmosphärischen Dichte vermag ich mich kaum zu entziehen.

Eben noch alleine und in aller Stille am Brunnenrand stehend, auf das köstliche Wasser in 25 Meter Tiefe blickend – verändert sich dieser magische Ort von einem Augenblick auf den anderen. Von allen Seiten strömen sie herbei: Esel, Kamele, Beduinenfrauen, Hirten, Kinder, Hunde, Schafe. Alle auf der Suche nach dem kühlen, Leben spendenden Nass. Und plötzlich stehe ich mitten auf einem Wüsten-Dorfplatz, im sozialen Zentrum dieser Einöde und alles ist voll Leben.

‚A Houm‘

Der Brunnen von Bir Rejeb ist einer der ältesten Wasserstellen von Südtunesien und bis heute hat sich an der Schöpfmethode nichts geändert. Mithilfe eines Schöpfsackes holen die beiden Mohameds das Wasser aus der Tiefe des Brunnens. Die tiefen, glatten Riefen in der Steinumfassung haben sich im Laufe der Jahrhunderte gebildet und sind ein Zeichen für die Mühe des Wasserholens als eine Art Denkmal in Stein. Mehrere hundert Liter Wasser müssen für unsere Karawane 25 Meter hoch ‚an Land gezogen‘ werden. Eine harte Arbeit für die Männer, die das Hochziehen des gefüllten Wasserschlauches mit den traditionellen Rhythmen begleiten: ‚A Houm – a Houm‘ – so klingt es immer wieder vom Rand des Brunnens in die Weite der Wüste.

Sein – ohne Haben

Was führt wohl Mohamed, den algerischen Nomaden, dazu, sich für ein Leben in der Wüste zu entscheiden? Welcher Optimismus, welches Gottvertrauen oder welche Perspektivlosigkeit steht hinter der Gründung seiner Familie in den Sandmeeren der Sahara? Wie kann eine Familie in der Wüste sein – ohne Haben? Als ich das erste Mal Mohameds Familie traf, war der Sohn Abdallah wenige Wochen alt. Ein kleines Bündel – nackt im Sand liegend.

In der gleichen Nacht tobte ein Sandsturm durch den Grand Erg Oriental. Stundenlang habe ich unter meiner schützenden Decke an Mohameds Familie, an den kleinen Abdallah gedacht und mir immer wieder die Frage gestellt: Wie kann eine Familie in der Wüste sein – ohne Haben?

Leben am Limit

Azouz und Edira – erzählt mir von eurem Leben hier in der Wüste! Erzählt, was für euch wichtig ist, was euch zum Lachen bringt und wo der Ernst des Lebens euch begegnet. Wo andere Kinder in Europa über ihren Mathebüchern brüten, geht ihr in die Schule des Über-Lebens. Ihr hütet eure Geschwister, die Schafe und Esel und geht den Eltern schon lange bei der Arbeit zur Hand. Ihr lebt ein Leben ohne ‚Netz und doppelten Boden‘ in der Wüste, in einem Lebensraum, der gleichzeitig schön und grausam sein kann.

Meryem, was hast du im Sande gesehen?

In der Nähe des Brunnens Bir Rejeb treffen wir auf die etwa zehnjährige Meryem, Tochter von Mohamed. Die Familie lebt als eine der wenigen noch ganzjährig in der Sahara, immer auf der Suche nach neuen Weidegründen für die Tiere. Sogenannte ’nicht registrierte‘ Menschen – ein Begriff, der aufhorchen lässt und nachdenklich macht, welches Leben sich wohl hinter dieser Bezeichnung verbirgt.
Während ihre Geschwister sich neugierig und fröhlich unserer Karawane nähern, bleibt Meryem zurückhaltend vor dem kleinen Familienzelt sitzen.

Sie schaut ernst, beobachtet das Geschehen um sie herum. Diesen Moment, ihren Blick, versuche ich ‚einzufangen‘. 12 Jahre Leben in der Wüste, von der Wüste, gegen die Wüste, mit der Wüste. Welche Spuren hat diese Zeit bei diesem Kind hinterlassen? Welche Fragen in ihr aufgeworfen?

Bittersweet Chocolate oder:
Die Kunst, ein Stückchen Schokolade zu genießen

Achtsamkeitsübungen haben hierzulande Hochkonjunktur. Doch wie kommt es, dass dieser kleine Junge, Abdallah, der mit seiner Familie ganzjährig in der Wüste lebt, uns als ein Meister der ‚Achtsamkeit‘ begegnet? Das kleine Stückchen Schokolade, das wir ihm reichen, wird in aller Behutsamkeit zum Munde geführt, beschnuppert, betastet, beleckt – geschmeckt.

Auch nach einer halben Stunde, als wir wieder aufbrechen müssen, ist dieses Schokoladenstückchen noch Teil seiner ‚Achtsamkeit‘: Der unendliche Genuss spiegelt sich in seinem Gesicht wider. Was gäbe ich darum, Schokolade wieder so genießen zu können wie dieser kleine Abdallah?

Lebens-Künstler

In der Wüste ist das Wesentliche der Mensch, das Tier, das Wasser, das Feuer. Diese Ressourcen ermöglichen das Überleben einer Karawane. Welch eine Kunst – in der Wüste, in dieser lebensfeindlichen Landschaft – zu überleben. Welcher Respekt, welche Hochachtung gebührt den Menschen, die als Einzige dieses Wissen als Schatz in sich tragen.

Les Chamelièrs

Eine Karawane in der Wüste wird nur das Ziel erreichen, wenn während der Reise das Wohl der Gemeinschaft im Vordergrund steht. Diese kollektivistische Orientierung der Nomadenkultur ist unabdingbar für das Leben in der Sahara. Sich zusammenschließen, einen Kreis ums Feuer bilden, gemeinsam Tee trinken, das Brot teilen, aus einer Schüssel essen – all diese Rituale der Chamelièrs (Kamel-hirten) stärken die Gemeinschaft und sichern damit das Überleben in der Wüste.

Unzertrennliche Weggefährten

‚Während Gott den Menschen aus Tonerde formte‘, so erzählt man, ‚fielen zwei Klümpchen zu Boden. Aus einem wurde eine Dattelpalme, aus dem anderen ein Kamel.‘

Kann man die Bedeutung dieser beiden Lebewesen für den Menschen in der Wüste noch deutlicher hervorheben als in dieser Legende? Wohl kaum!

‚In der Wüste sind Mensch und Tier untrennbar wie die Knie des Kamels‘, sagt eine alte Beduinenweisheit.

Ohne das Kamel, das endlose Wüstenstrecken mit einer einzigen ‚Tankfüllung‘ schafft und dem, Dank seiner hervorragend angepassten Organe, kaum ein Sandsturm etwas anhaben kann, gäbe es keine Karawanen, kein Überleben.

Für die Beduinen – wie hier Mohamed – ist das Kamel als Reit- und Lasttier unersetzlich, als Weggefährte durch die Dünen der Sahara sind Mensch und Tier unzertrennlich.

Der Kuss

Ich vermag nicht in Worte zu fassen, was Mohamed seinem Kamel mit seinem ‚Kuss‘ signalisieren möchte. Seine Körperhaltung spiegelt eine innige Verbindung zu seinem treuen Wegbegleiter in der Wüste. –

Das Kamel, arabisch al gamal, stammt aus der gleichen Wurzel wie der Begriff Schönheit (schön=gamil). Al gamal ist von daher immer auch ein Synonym für Schönheit, Zuneigung, Verehrung und Bewunderung.

Mein Kamel Said ist bei gut aufgehoben, so geht es mir in diesem Augenblick durch den Kopf. Mohamed ist ein guter Kamelpädagoge, lässt die ‚Leinen‘ lange laufen, lässt seinen Tieren viele Freiheiten. Im entscheidenden Augenblick jedoch hat Mohamed seine Tiere im Griff. Er ist wohl der erfahrenste Beduine, den ich kenne.

Jamal, der Schöne

Nein, hier ist nicht der junge Beduine gemeint! – Jamal, so wird der kleine Kamelhengst genannt, der hier stolz in die Kamera blickt. Über die ‚Schönheit‘ der Kamele – dieser würdevollen, eigensinnigen, archaischen Tiere – ranken sich vielerlei Geschichten, die abends am Wüstenfeuer die Runde machen.

Einzig das Kamel kennt den 100. Namen Gottes – so die Legende! Wohl aus diesem Bewusstsein heraus stolziert auch Jamal mit hoch erhobenem Kopf durch die Sandmeere der Sahara. Die wahre Schönheit dieser Tiere kann wohl nur der vollends erleben, der sich auf das Abenteuer Karawane einlässt und es versteht, das Vertrauen dieser Wüsten-experten zu gewinnen. So wie Mohamed, der junge Beduine neben seinem stolzen Dromedar.

Eigenwille – Kamelflüsterer

Das Kamel kann auch ohne Mensch in der Wüste bestehen! Anders der Mensch: Ohne seine Tiere hätte er keine Hoffnung auf Überleben. Diese Unabhängigkeit, Autonomie ist vielleicht der Grund für den großen Eigenwillen, die Widerspenstigkeit dieses einhöckrigen Wüstenwanderers. Drohen, Fauchen, Schnappen, Knurren – wer sich als Kamelführer da Angst einjagen lässt, hat schon verloren.

Ein Tipp aus der Kamelpädagogik von Abdallah: ‚Ohne Angst Vertrauen aufbauen!‘ Nur so kann man das Urtier für sich gewinnen, nur so wird es zum treuen Begleiter durch alle Dünenberge hindurch – bis zur Oase.

‚Dabbusa ma men-fadlek!‘

In den Pausen, wenn wir uns zum Verschnaufen im Sand niederlassen, hört man – auf Arabisch, auf Französisch – immer wieder diesen Satz: ‚Eine Flasche Wasser, bitte!‘ – ‚Dabbusa ma men-Fadlek!‘

Kurz darauf setzt Ahmed, setzen wir die Flasche Wasser an die Lippen und lassen uns vom kühlen Nass erfrischen, spülen den Sandstaub in der Kehle hinunter. Dieser Glücksmoment, allein durch einen Schluck Wasser ausgelöst – er ist in seiner Intensität wohl einzigartig.

Das Wüstenschiff

Seit jeher steht das Kamel im Zentrum des Beduinenlebens – hochgeschätzt und Grundlage allen Reichtums, Maßtab für Raum und Zeit. Seine Ausdauer, Genügsamkeit und Geduld machen es zum unentbehrlichen Gefährten in der Wüste.
Der lange Hals des Kamels dient als eine Art Balancierstange beim Aufstehen mit großer Last. Füsse und Gelenke des Kamels sind durch eine dicke Hornschicht gegen die Hitze des Wüstensands ‚isoliert‘. Der Höcker dient als Fettspeicher, von dem die Tiere lange Zeit zehren können.
Ein Kamel beginnt erst bei Temperaturen von über 40 Grad zu schwitzen. Seine Körpertemperatur kann zwischen 34 und 40 Grad Celcius schwanken, um den Wasserhaushalt optimal zu regulieren. Gegen Hitze und Kälte ist es gleichermaßen unempfindlich.
Als dem wiegenden Gang des Kamels entwickelte sich das klassische Versmaß der altarabischen Poesie – ein endloses Reimgedicht, endlos wie die Wüste.

Schritt für Schritt

‚Wir lernen beim Gehen nicht in großen Dimensionen zu denken, sondern im einzelnen Schritt. Dem Schritt, der dem folgenden vorausgeht und dem gegangenen nachfolgt. Das ist unser Universum, der einzelne Schritt, wie viele tausend Male wir ihn auch gehen an diesem Tag.

Betrachte jeden Schritt wie ein kostbares Juwel, einzigartig und doch wertlos ohne die Gesamtheit der Schritte, die ihn umgeben und dich schließlich an dein Ziel bringen. Denn so wenig ein einzelnes Sandkorn eine Wüste ist, so sehr ist es doch ein unverzichtbarer Teil des Ganzen. So macht der Schritt das Gehen aus. Wie das Sandkorn die Wüste.‘

(unbekannter Autor)

Tiefenentspannung

‚Petit pause‘, ruft Ahmed. Und im nächsten Augenblick lässt er sich fallen in den weichen Wüstensand. Gerade noch die Sanddünen mit großen Schritten hinaufgestiegen, seine drei Kamele fest im Griff, Ausschau haltend nach dem Wegverlauf, im Blick das Gepäck und die Reiterin, ja die ganze Karawane.

Und im nächsten Moment: Tiefenentspannung im warmen Wüstensand. Die Seele baumeln lassen – miteinander, in Kürze Kraft und Energie tanken, bis es wieder weiter geht und es auf fränkisch (!) über die Dünen tönt: ‚Gemma!‘ Die Karawane zieht weiter.

Manna – Wüstenbrot

Eine Backstube und ein Brotbäcker – in den Weiten der Sahara. Mohamed zaubert uns Tag für Tag ein köstlich knuspriges Fladenbrot – gebacken in Asche und glühendem Sand. Er reicht mir ein erstes Stückchen frisches Brot, warm und duftend liegt es in meiner Hand.

Gibt es etwas Köstlicheres als unter dem weiten Wüstenhimmel zusammen mit Mohamed ein warm dampfendes Stückchen ‚Wüstenbrot‘ in ein Schälchen mit Olivenöl zu tunken und dieses ‚heilige‘ Brot aus der Wüste zu kosten?

Leben – Liebe – Tod

Die Teezeremonie ist ein fester Bestandteil des Alltags in der Wüste. Mehrmals am Tag wird grüner Tee mit Minze zubereitet und in fast fingerhutkleinen Gläschen in die Runde gereicht.
Und so wird es gemacht: Zu Beginn der Teezubereitung werden die trockenen grünen Teeblätter in der Kanne mit heißem Wasser aufgegossen und mit Zucker versetzt.
Nach etwa einer Minute wird ein Glas halbvoll mit Tee gefüllt und beiseite gestellt. In die Kanne kommen ein weiteres Stück Zucker und eventuell frische Minzeblätter.
Die wesentliche Prozedur ist das folgende Einfüllen des Tees aus großer Höhe in ein Glas und Zurückleeren in die Kanne. Dieser Vorgang wird mehrfach wiederholt, bis sich im Glas eine hohe Schaumschicht gebildet hat.
Zwischendurch muss mehrfach probiert und nachgesüßt werden. Erst wenn die Geschmacksprobe zufriedenstellend war, erhält jeder ein Glas.
Auf der Flüssigkeit sitzt ein ebenso hoher Schaumberg. Üblicherweise werden drei Gläser angeboten – nach dem weit verbreiteten Motto: ‚Das erste Glas ist bitter wie das Leben, das zweite stark wie die Liebe und das dritte sanft wie der Tod.‘

Kunde des Windes

Marsouk Kalifa Ben Mohamed Ben Salem – Kamelhirte aus Sabria hütet das Feuer.

Unbeeindruckt von der sengenden Mittagshitze sitzt er vor der Feuerstelle und lässt seine Gedanken wandern, hört das Knistern der abklingenden Glut, das Blubbern des backenden Brotes, das Gurgeln der aufgebrachten Kamele um ihn herum. – Und das Flüstern des heißen Sahara-Windes, das ihm um den Körper streicht: ‚Welche Kunde hat dir der Wind zugetragen, Marsouk Kalifa?‘

Lebenslinien

Wir biegen um die nächste Düne und stehen unvermittelt in einem kleinen Wüstencamp. Natürlich haben uns die dort lebenden Nomaden bereits entdeckt und begrüßen uns in ihrer Runde. Um uns herum gruppieren sich mehrere Frauen und eine Schar fröhlich lachender Kinder. Die Gastfreundschaft der Nomaden tut gut, wir werden zu einem Platz im Schatten eines Zeltes geführt, ein Tee wird gereicht, ein Stück Brot angeboten, eine Flasche köstlich kühler Kamelstutenmilch macht die Runde.
Keine Frage: Wir sind auch zum Mittagessen herzlich eingeladen und es gibt – wen wundert es: Couscous. Die alte, fast erblindete Frau ist offensichtlich als Clan-Älteste für das Wohl der Gäste verantwortlich. Wie alt mag sie sein?
Ihr Gesicht ist gezeichnet vom Leben in der Wüste. Jede Falte könnte wohl eine Geschichte aus ihrem Leben als Nomadin in der Sahara erzählen. Auch Spuren einer Tätowierung erkennt man am Kinn – dieser Gesichtsschmuck ist eine alte Tradition der Wüstennomaden, der darüber hinaus die Stammeszugehörigkeit repräsentiert.
Unwillkürlich verliere ich mich beim Betrachten dieses ausdrucksstarken ‚erzählenden‘ Gesichtes, tauche mit meiner Fantasie ein in die Geschichten, die diese Frau erlebt haben mag und bin angerührt von so viel Würde, Stolz, Zufriedenheit und Glück im Gesichtsausdruck dieser Frau.

Der Traum: Wahrheit der Stille

‚Die Wüste ist schön‘, sagte der kleine Prinz, ‚doch was ihre Schönheit ausmacht, ist unsichtbar.
Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar. (…)

Nur in der Stille kann die Wahrheit des Traumes Früchte ansetzen und Wurzeln schlagen. Stille des Herzens. Stille der Sinne. Stille der inneren Worte und Bilder. Traum-Stille.

Wie wenig Lärm machen die wirklichen Wunder des Lebens? Wie einfach sind die wesentlichen Ereignisse? Das Erhabene bringt das Gefühl für die wirkliche Weite – doch diese ist nicht für das Auge, sie wird nur dem Geist gewährt.‘

(nach Antoine de Saint-Exupéry)

Grenzenlos leben – Freiheit atmen – Lebendigkeit spüren

Welche Begriffe kommen in den Sinn, wenn wir an die Wüste denken? – Welche Bilder tauchen im Kopf auf, wenn wir uns Reisen als Teil einer Karawane vorstellen? – Welche Worte können das Gefühl beschreiben, das mich einholt, wenn ich mit Mohamed über die Dünenkämme wandere, die bepackten Dromedare im Gleichschritt hinter uns wissend, über die Sandmeere vor uns blickend, die sich bis zum Horizont ausweiten? In diesem Moment einen Hauch spüren, der sich kaum in Worte fassen lässt:

Grenzenlos leben – Freiheit atmen – Lebendigkeit spüren – sich am Augenblick dieses Glücks berauschen!

Weitblick

Sag Ahmed, was hast du in der Weite des unendlichen Dünenmeeres entdeckt? Hältst du Ausschau nach einem Wegzeichen, das der Karawane die Richtung weist? Was siehst du in den unendlichen Weiten der Sahara?

Feuer im Rhythmus der Nacht

Knisterndes Lagerfeuer, heißer Tee macht die Runde, die Kälte der Nacht lässt uns zusammen rücken, Geschichten werden erzählt, immer wieder ausgelassenes Lachen, um uns herum das vertraute Gurgeln und Schnauben der Kamele. Die Wüstennacht schärft unsere Sinne. Wir sitzen alle um das wärmende Feuer unter dem allumfassenden nächtlichen Sternenhimmel, einige eingehüllt in einen warmen Burnus, dem traditionellen Hirtenmantel.
Und dann erklingen, wie jeden Abend, die schon vertrauten Rhythmen der Trommel und unsere Begleiter beginnen zu singen: erst Mohamed, dann auch Ahmed, Ali und Marsouk. Alle stimmen ein in die alten Nomadenlieder, die den Zauber einer Wüstennacht am Feuer noch verstärken. –

Auf meine Frage nach dem Inhalt des Liedes, bekomme ich zu hören: ‚Es geht um die Liebe, die Frauen, die Kamele und das Feuer in der Wüste.‘ Und das zweite Lied, was wird hier besungen? ‚Hier geht es um die Frauen, das Feuer, die Liebe und die Kamele in der Wüste‘, antwortet Mohamed, der Sänger.

Blick auf das Wesentliche

Ich begleite meinen Freund Monji zum Zeltdorf in der Sahara, in dem seine Mutter Fatima mehrere Monate im Jahr verbringt. Jedes Frühjahr spürt die alte Beduinenfrau eine große Sehnsucht nach der Wüste, nach dieser besonderen Landschaft, in der sie die meiste Zeit ihres Lebens verbracht hat. Dann zieht sie mit zwei Dutzend anderen älteren Nomaden wieder hinaus in die Weiten der Sahara. Vor Ort erst verstehe ich das ‚Konzept‘, das hinter diesem ‚Umzug‘ steht, denn mich erwartet doch tatsächlich ein Mehrgenerationen-Camp, denn in dieser Zeltstadt leben Beduinen jeden Alters, Kinder springen zwischen den Nomadenzelten herum. – So auch die Enkelin von Fatima.

Gerne lässt sich Douaa auf den Schoß ihrer Oma ziehen. Der Blick der alten Beduinenfrau lässt sich vielseitig deuten.- Für mich ist es ein Blick auf das Wesentliche im Leben der Beduinen, das ihnen das Überleben in der Sahara erst ermöglicht. Der Blick auf die Familie, die Kinder, die nächste Generation, Douaa.

Was kostet die Welt?

Unzählige Reiter, Musiker, Tänzer und andere Künstler aus ganz Nordafrika treffen sich einmal im Jahr zum ‚Festival international du Sahara‘ in Douz (Tunesien). Für drei Tage verwandelt sich das kleine Oasenstädtchen am Rand der Sahara in einen bunten, quirligen Festplatz.

Zwei Tuareg präsentieren stolz ihre Reitkünste auf Pferd und Dromedar und postieren sich vor meiner Linse. Ihre arabischen Kommentare gehen im Trubel unter – ihre Körpersprache ruft mir zu: ‚Was kostet die Welt?‘

Wüstenprinzessin

‚Es war einmal …‘ So könnte auch die Geschichte dieser kleinen Wüstenprinzessin beginnen. – Gerade noch haben die Mädchen auf dem Saharafestival zum Trommelwirbel einen atemberaubend schönen Brauttanz vorgeführt, haben ihre offenen Haare zu den Rhythmen der Musik ‚tanzen‘ lassen. Und im nächsten Augenblick steht sie vor mir und fordert mich selbstbewusst zu einem Foto-Shooting auf.
Alles an ihr strahlt, glitzert, funkelt! Nicht nur die Kette, Krone und ihr ‚Brautkleid‘. – Der ganze kleine Mensch, diese stolze Wüstenprinzessin strahlt mich an und genießt den Augenblick.

Augen-Blicke

Diesen Augenblick festhalten: Drei Kinder blitzen mich übermütig an. Stolz präsentieren sie ihre Papierkarte, auf der Ali (rechts) gerade etwas auf Arabisch gekritzelt hat. Sein Name?

Stolz wird auch die große Nähnadel in die Kamera gestreckt, mit der eine kleine traditionelle Beduinentasche ‚genäht‘ wurde. Übermütiger Wechsel zwischen Lernen und Spielen und Toben und Lachen und Kämpfen und Strahlen und – in diesem Augenblick forsch in meine Linse gucken!

‚Ich beobachte den endlos fließenden Sand der Düne, wie weiße Wellen eines stillen Ozeans. Ich erkenne sie wieder in all ihrer Pracht, mit ihren trübseligen Zaubereien, diese Erde, die unter der ewigen Liebkosung der Sonne wie von Sinnen ist. –

Du gleitest die Dünen im warmen Sand hinunter, stapfst über ihre Kämme. Und plötzlich gehörst du dazu, bist ein Bestandteil dieser Weite, dieses Wüstenmeeres, der Sahara, das Tor zur Unendlichkeit.-

Ich liebe dich, Wüste, du Zauberland, du unwiderbringliches Land des Schweigens und der Ruhe, fern von der lärmenden Welt, du Land des Traumes und der Trugbilder, das die Unruhen Europas ungerührt an sich vorüber ziehen lässt.‘

(Isabelle Eberhardt)

Bahr bela ma

‚Bahr bela ma‘ – Meer ohne Wasser wird die Sahara von den Beduinen genannt. Die große Sandwüste im Süden Tunesiens hat tatsächlich ozeanische Dimensionen und gleicht in ihrer stillen Schönheit einem Meer aus Sand und Dünen.
Als ich eines Abends am Lagerfeuer von Mohamed gefragt werde, was mich in die Wüste geführt hat, ist mir sogleich Isabelle Eberhardt (1877-1904) eingefallen. Als Mann verkleidet bereiste sie Ende des 19. Jahrhunderts die Sahara und gab sich dem Zauber des Orients und dem Nomadenleben hin. Ihre Reisebeschreibungen hatten mich tief angerührt und im Winter 2005 wurde aus der literarisch geweckten Wüstensehnsucht endlich Realität.
Gemeinsam mit einer kleinen privat organisierten Wüstenkarawane tauchte ich ein in die endlosen Weiten des Grand Erg Oriental. Der Einladung der Beduinen folgend kehrte ich bereits sechs Wochen später allein zurück. Damals noch kein Wort arabisch oder französisch sprechend stürzte ich mich in ein Abenteuer, das sich bis heute von Reise zu Reise fortsetzt.
Die Beduinen nennen mich ‘Mabrouka’, was soviel wie ‘die Segnende’ oder ‘die alles willkommen heißende’ bedeutet. Dieser Name steht für mein ‚zweites‘ Leben: Seit mich der Wüstenvirus infiziert hat, tauche ich jedes Jahr mehrmals in die Nomadenkultur der Sahara ein und organisiere seit 2007 Kameltrekkings im Grand Erg.

Mittlerweile habe ich die Beduinen Ahmet, Hedi, Massaoud und Mohamed als Freunde gewonnen und bin von Amors Familie als ‘Schwester’ aufgenommen worden.
Seit 2007 bin ich stolze Besitzerin eines jungen Dromedars namens Said. 2010 kam mein ‚Zweitkamel‘ hinzu – ein weißes Dromedar aus Agadez namens Mabrouk.
Nun erahne ich den ‚unsichtbaren Schatz’ der Sahara, über den seit jeher viele Wüstenreisende geschrieben haben: Denn es ist wahrlich ein erhabenes Gefühl, als Teil einer Karawane in die Sandmeere der Sahara hinauszuziehen. Tagsüber hoch oben auf dem Rücken eines Dromedars sitzend und sich dem wiegenden Rhythmus des ‘Wüstenschiffes’ anzugleichen und des Nachts in der Gemeinschaft der Beduinen am Lagerfeuer seinen Blick im unvergesslichen Sternenhimmel zu verlieren.