Das Kamel kann auch ohne Mensch in der Wüste bestehen! Anders der Mensch: Ohne seine Tiere hätte er keine Hoffnung auf Überleben. Diese Unabhängigkeit, Autonomie ist vielleicht der Grund für den großen Eigenwillen, die Widerspenstigkeit dieses einhöckrigen Wüstenwanderers. Drohen, Fauchen, Schnappen, Knurren – wer sich als Kamelführer da Angst einjagen lässt, hat schon verloren. Ein Tipp aus der Kamelpädagogik von Abdallah: ‚Ohne Angst Vertrauen aufbauen!‘ Nur so kann man das Urtier für sich gewinnen, nur so wird es zum treuen Begleiter durch alle Dünenberge hindurch bis zur Oase.
Ortswechsel
Ich habe meine Stammplätze: am Esstisch, auf meinem Schreibtischstuhl. Links auf dem Sofa, in meinem Lieblingscafé, auf der Kirchenbank, im Kino in Reihe F möglichst in der Mitte. Hier sitze ich immer und es ärgert mich, wenn mein Stammplatz besetzt ist. Nur aus Höflichkeit trete ich dem unwissenden Besuch mein Platzrecht ab, während ich mich woanders hinsetze. Selbst in der eigenen Küche kann das sehr ungewohnt sein: Statt aus dem Fenster zu schauen, habe ich es plötzlich im Rücken, das Licht ist anders und an der Decke sehe ich mit einem Mal überall Spinnweben! Neue Plätze verrücken den Blick. Vielleicht wird deshalb an Stammtischen so selten über den eigenen Tellerrand geschaut. Ich nehme mir daher vor, mehr Stühletausch zu wagen. Wir könnten zu jeder Mahlzeit im Uhrzeigersinn weiterrutschen. Den Schreibtisch könnte ich in einem anderen Winkel zum Fenster stellen. Im Café setze ich mich mitten rein, in der Kirche auf die Empore und im Kino in die erste Reihe und schaue, ob das mit den Nackenschmerzen stimmt. Mal sehen, welche neuen Plätze und Blickwinkel ich bis Weihnachten entdecke.
(Oliver Spies)
Halbzeitgebet
Für alle halb gelebten Leben
und für alle himmelhohen Träume.
Für alle missglückten Anfänge
Und für das Glück, das noch aussteht.
Für alle Liebe, die auf der Strecke blieb
und trotzdem nicht verloren ist.
Für alle kühnen Versprechen und auch für die
Halbherzigkeit.
Für alles Scheitern, für alles Nocheinmal.
Für alles, was offen ist.
Für die angebrannten Kekse und das halb volle Glas.
Für das Hoffen und das Sehnen.
Für viel zu große Schuhe und klitzekleine Schritte.
Für uns, Held*innen und Hasenfüße.
(Susanne Niemeyer)