Ich lausche den Geschichten am Feuer, die in mir die Sehnsucht nach wahrem Leben wecken
Die Feder
‘Auf der Spitze eines hohen Berges lebte der kleine Vogel. Tagein, tagaus saß er da. Er konnte sich nicht erinnern, wie er dorthin gekommen war. Doch darüber dachte er auch nicht nach, denn er hatte andere Dinge zu tun. Er überlegte, wohin die Wolken ziehen und woher sie kommen – was die Sonne macht, wenn sie abends hinter den Bergen verschwindet – und warum sie morgens immer wieder aufgeht. Und nachts bewunderte er den Mond und zählte die Sterne. Der kleine Vogel mochte die Wolken, die Sonne, den Mond und die Sterne. Doch am meisten mochte er den Wind. Der ihm Geschichten erzählte. Manchmal konnte der kleine Vogel ihn flüstern hören. Manchmal erzählte der Wind von wilden und gefährlichen Abenteuern. Und manchmal erzählte er von tiefen Meeren, dunklen Wäldern, endlosen Wüsten und leuchtenden Städten. Eines Morgens, als der kleine Vogel wie immer auf der Bergspitze sass und in den Himmel schaute, erzählte der Wind ihm keine Geschichten. Er trieb, schneller als sonst, die Wolken vor sich her. Es begann zu regnen und der Wind wurde immer heftiger. Als das Unwetter sich verzogen hatte, entdeckte der kleine Vogel eine Feder. Die Feder sah anders aus als seine eigenen Federn. Sie erinnerte ihn an etwas, aber er wusste nicht, woran. An diesem Tag beobachtete der kleine Vogel nicht, wie die Wolken vorüberzogen. Er blickte auch nicht hinter der Sonne her, die langsam hinter den Bergen versank. Es wurde dunkel und er schaute immer noch die fremde Feder an. Dann, in der Nacht, als der Wind sanft durch seine Federn strich, legte der kleine Vogel die Feder vorsichtig auf die Bergspitze, öffnete seine Flügel und flog mit dem Wind davon.’ (Klaus Baumgart)
‘Wir richteten uns also für die Nacht ein. Aus den Laderäumen holten wir fünf oder sechs Warenkisten, leerten sie und stellten sie im Kreis auf, und in der Höhlung einer jeden zündeten wir eine ärmliche Kerze an, die dort notdürftig vor dem Wind geschützt war. So bauten wir uns mitten in der Wüste auf der nackten Rinde unseres Planeten, in einer Einsamkeit wie in den ersten Jahren der Schöpfung, ein Menschendorf. Wir saßen zusammen auf unserem Dorfplatz, diesem Stückchen Sand, auf das unsere Kisten ihr zitterndes Licht warfen, und warteten. Und ich weiß nicht, was dieser Nacht eine Weihnachtsstimmung gab: Wir erzählten einander Geschichten. Wir genossen die gleiche leicht gehobene Stimmung wie mitten in einem wohl vorbereiteten Fest. Dabei waren wir unendlich arm. Nur Wind, Sand und Sterne. Und doch teilten auf dieser schlecht beleuchteten Fläche sieben Menschen, die auf der Welt nichts besaßen als ihre Erinnerungen, unsichtbare Schätze untereinander aus. (Antoine de Saint-Exupery))