Schätze aus der Wüste
‘Niemand kann in der Wüste leben und unverändert daraus hervorgehen. Er wird für immer, mehr oder weniger deutlich, das Zeichen des Nomaden tragen; und er wird immer das Heimweh nach diesem Leben spüren, ob leise oder brennend.’
(Wilfred Thesiger)
‘Geh hinein in die Wüste und fühl hin. Geh eine Weile, ein paar Stunden, ein paar Tage. Mach hell deine Sinne, lausche, rieche, schau, spür die Mühen deines Gehens und sei ein wenig zufrieden mit dir. Sei wahrhaftig mit deinen Problemen und hör auf, dich anzulügen. Denn eines ist sicher: Wer wahrhaftig in die Wüste geht, der kommt verändert wieder heraus.’ (Jürgen Werner)
Wir sollten unsere eigenen Souvenirs auspacken. Wir haben es verdient, uns selbst mit unseren Andenken aus der spirituellen Wüstenwanderung durch den Advent zu beschenken. Wir müssen sie nur auspacken. Wenn es uns gelingt, dieses Stück festzuhalten, sind wir im Besitz einer Oase im Alltag. Seltsamer Widerspruch und doch wahr: ein Stück Wüste als unsere Oase im Getriebe unseres Lebens. Schenken wir uns also die Zeit, ab und zu in unsere Oase zu pilgern. Dabei muss jeder seinen eigenen Weg finden, der ihn in seine Oase führt. Aber all das, was wir in der Wüste erfahren haben, wird uns dabei helfen. Wir haben die Zeit, um uns Zeit zu schenken. Wir müssen sie uns nicht nehmen. Gehen wir einfach etwas langsamer durch unseren Alltag – dann und wann – , und wir haben den ersten Schritt getan hin zu unserer eigenen Oase. Wir bestimmen das Tempo unserer Schritte, wir können uns Zeit schenken, wenn wir dies nur wollen.
Erinnern wir uns daran, mit wie wenig Dingen wir unseren Aufenthalt in der Wüste bestritten haben. Nur das wirklich Notwendige hat uns durch den Tag begleitet: unsere Kleidung, der Schutz gegen die Sonne, die guten Schule, so viel Wasser und Nahrung als nötig, Geschirr für unser Essen, das Glas für den Tee, der Schlafsack für die Nacht. Wir haben gelernt, dass alles Überflüssige nur hinderlich und erschwerend ist. Schenken wir uns einen Tag, an dem wir uns selbst beschränken auf Wesentliches: ein Tag ohne Uhr, ohne Handy und Telefon, ohne Fernseher und Computer, ein Tag ohne Termine und Ablenkungen. Und uns auf den Weg machen zu uns selbst. Wenn wir den Mut aufbringen, uns darauf einzulassen, werden wir wieder ein Stück Wüste finden. Ein kleines Stück Wüste am Rand unseres Lebens zu Hause.
Sich in seinem Alltag neu zu orientieren, inne zuhalten und nach einem Stück Wüste Ausschau zu halten, ist nicht immer ganz einfach. Zu sehr haben wir uns an unsere Alltagsrituale gewöhnt, zu tief haben wir die Strategien verinnerlicht, mit denen wir versuchen, unseren Alltag und unser Leben in den Griff zu bekommen. Um die Wüste in sich selbst zu finden muss man nur den ersten Schritt tun. Alles, was dann folgt, ist nur halb so schwer. Schenken wir uns also Zeit für den ersten Schritt. Die Wüste hat uns gezeigt, dass wir uns auf uns selbst verlassen können. Wir benötigen nicht viel Aufwand und nicht viel Mut zu einer Reise zu den kleinen Wüsten unseres Alltag.
Schenken wir uns die Zeit zu einem Ausflug in die Stille. Egal, ob das ein Spaziergang draußen in der Natur ist oder ein Nachmittag in den wohligen vier Wänden. Wir werden sie wieder finden, die große Stille der Wüste. Ihr Nachhall ist in uns, wir müssen nur darauf hören. Der Atem der Wüste atmet in uns fort. Auszeit – Wüstenzeit. Den Tag einfach geschehen lassen. Unterwegssein irgendwo zu Fuß in der Stille, und das Gefühl der Weite in uns wird zurückkehren. Und wir werden spüren: Unser Leben ist im Fluss, nichts stagniert wirklich. Wir müssen auf den Rhythmus unseres Lebens lauschen, auch wenn uns dieser manchmal nicht gefällt. Aber wenn wir uns dem Leben anvertrauen, werden wir tief in uns die Lösung finden: den richtigen Schritt, das richtige Tempo, das uns in Einklang mit unserer Lebenswelt bringt und das uns doch schließlich voranbringt.
Wie arm ist, wer seine Wüste nicht hat mitten im Lärm der Zeit. (Werner Bergengruen)
Denken wir an das Gehen in der Wüste. Es ist nicht förderlich, auf ein fernes Ziel am Horizont zu starren und zu lamentieren, wie weit wir noch davon entfernt sind, zu zweifeln, ob wir es je erreichen werden. Sich auf die Gegenwart konzentrieren heißt die Lösung. Schritt für Schritt bei sich selbst sein und nicht zurückblicken auf das, was hinter uns liegt, und nicht nach vorne sehen auf das, was da noch alles auf uns zukommen könnte. Die gleiche Regel kann auch für unseren Alltag gelten, für unseren oft ebenso mühevollen Weg durch das tägliche Leben.
Und falls die Dinge nicht so laufen, wie wir uns das vorstellen? Wir sind es ja gewohnt, dass alles so klappen muss, wie wir uns das in den Kopf gesetzt haben. Erinnern wir uns doch an das ‘inshaalah’ der Araber. Wir sind nicht die Herren über unser Schicksal. Das Schicksal oder wie immer wir es nennen wollen, macht uns nur zu oft einen Strich durch die Rechnung. Wir sind machtlos und werden wütend darüber, anstatt zu begreifen, dass wir die Dinge einfach akzeptieren müssen. Vieles, was im Leben geschieht, kann man nicht ändern. Wir haben keine Wahl. Entweder wir begehren dagegen auf und verschwenden dadurch unsere Energien, oder wir akzeptieren es in Demut, weil wir wissen, dass wir in uns die Kraft und die Fähigkeit haben, uns auf eine neue Lebenssituation einzustellen, sie ebenso anzunehmen wie den steinigen Weg in der Wüste. Wir sind unterwegs auf einer Reise, und wie in der Wüste ist der Weg mal beschwerlicher und mal leichter zu gehen. Gehen müssen wir ihn so oder so. Es liegt an uns, ob wir den Mut haben, es uns leichter zu machen und den passenden Schritt zu finden.
Packen wir unsere Souvenirs aus der Wüste aus. Schenken wir uns die Oasen der Stille und Demut, aus Gelassenheit und Selbstvertrauen. Wenn wir das zulassen, was die Wüste uns gezeigt hat, wenn wir den Weg weiter gehen, den wir in der Wüste zu gehen begonnen haben, wird er uns zu uns selbst führen. Das ‘Seelengepäck’, das wir vor Aufbruch zu unserer Wanderschaft durch die Wüste in unseren Rucksack gepackt haben, wird auf einer der Etappen auf der Wanderschaft durch unser Leben plötzlich nicht mehr auf den Schultern unserer Seele lasten. Wir müssen nur begreifen, dass der einmal in der Wüste begonnene Weg niemals zu Ende ist. Wir brauchen nur den Mut, auf das zu hören, was die Wüste uns erzählt hat über uns selbst. Es ist in uns. Was sie uns zeigt über uns selbst, das ist unser Souvenir aus der Wüste. Wir können es nie mehr verlieren. Vieles kann sich dann für uns ändern, vieles kann unser Leben erleichtern – ‘Inshallah’.
Wüste ist jetzt, Wüste ist Verheißung und Erfüllung, Weg und Ziel, Läuterung und Hoffnung. Die Wüste lehrt das Leben neu. Die Wüste wirkt das Wachstum neu. Das Leben wird im Wachstum reich. Die Wüste ist die neue Welt.
(Matthias Kopp)