2. Dezember

Lass dich inspirieren von der Weisheit der Wüstenmütter und Wüstenväter

‘Ich habe schon von Schafen und Kristallen gelernt, warum sollte mich die Wüste nicht auch etwas lehren’, überlegte er. ‘Sie scheint mir noch älter und weiser zu sein.’ (Paulo Coelho)

Weite, die erst am Horizont endet, Sand und Steine, die kaum spärliches Grün dulden, ein Millionen-Sternenhimmel wie ein Glitzermeer, eine geruchsarme Stille, in der leises Atmen und zart knirschender Sand zur einzigen Geräuschkulisse werden und der milde Duft des Brotes die Intensität von süßem Parfüm gewinnt. Die Wüste als ein Ort der Abwesenheit von allem, was an das Leben erinnert, ist ein unendlicher Ort der Sehnsucht: für Vergessensucher und Sinnsucher, für Menschen auf der Suche nach Gott, nach dem Glück, nach Wahrheit und Einsamkeit. So vielfältig wie die Sand- und Steinlandschaften der Wüsten mit ihrer bizarren Felsenkulisse, den endlosen Schotterflächen oder den sanften Sandhügeln, die bis zum Horizont ein Meer aus Wellen schlagen, so unendlich sind auch die Phantasien und Zuschreibungen dieses extremen Lebensraumes.
Im alten Ägypten war die weite Wüste westlich des fruchtbaren und lebensspendenden Niltales das Land der untergehenden Sonne, das Reich der Dunkelheit und des Todes, die Feuerhölle. Erst die jüdische und später die christliche Religion entdeckten die heilsbringende und offenbarende Kraft dieser scheinbar unerbittlichen Wildnis. Moses fand in einem brennenden Busch in der Wüste Sinai die göttlichen Gesetzestafeln, Jesus ging zum Fasten und zur Meditation in die Wüste, dem Propheten Mohammed wurde der Koran in einer Wüstenhöhle offenbart. Frühe christliche Kopten, die in großer Zahl in die ägyptische Wüste flüchteten, wurden Wegbereiter der Einsiedelei. Vielleicht begründeten diese christlichen Eremiten auch die heutige Faszination der Wüste – in ihrer ganzen Ambivalenz zwischen Wahnsinn und Vision, zwischen Angst in der Einsamkeit und Klarheit des Geistes, zwischen unendlicher Freiheit und quälenden Entbehrungen. Da wird die Wüste in ihrer Stille und Unendlichkeit ein Ort der Einkehr und inneren Sammlung fern einer schnellebigen, von Lärm und Umweltverschmutzung begleiteten Zivilisation.

Ganz gleich, welche Gründe Wüstenbesucher, Forscher oder Abenteurer hatten und haben, sich bewusst den Einöden dieser Erde mit hoher Trockenheit, kalten Nächten und extrem heißen Tagen, den unwirtlichen und ungewohnten Lebensbedingungen auszusetzen, oft erlagen sie bei aller lebensfeindlichen Bedrohlichkeit der Faszination der Wüste und fühlten sich durch den Aufenthalt in ihr zum Schreiben inspiriert. Sie entdeckten voller Neugierde in der scheinbaren Leere der Wüste nicht nur sagenumwobene Orte, Höhlenzeichnungen, Ruinenstädte, Pilgerpfade und Karawanenwege, sie machten die Wüste auch zur Heimstatt der Wahrheitsfindung und Spiritualität, der Wandlung, der Weisheit und der Leidenschaft. Doch – es existiert kein wesenhafter Unterschied zwischen dem Leben der Wüstenväter und Wüstenreisenden und dem unseren. Denn das Leben des Menschen ist in allererster Linie eine Suche, eine Spurensuche nach dem rechten Weg durch die Wüste. (Jürgen Werner)

Die Spiritualität der Wüstenväter ist eine Spiritualität von unten. Wenn wir spirituellen Idealen folgen, sind wir in Gefahr, unsere Realität zu überspringen und uns mit hohen Idealen zu identifizieren. Doch dann verdrängen wir unsere Schattenseiten. Und die werden sich dann in unsere Spiritualität hineinmischen. Das führt entweder zu innerer Spaltung, die uns krank macht, oder aber zu einem Leben auf zwei Ebenen: auf der spirituellen Ebene haben wir eine hohe und oft euphorische Frömmigkeit. Und auf der menschlichen Ebene leben wir unsere Bedürfnisse nach Macht und Zuwendung aus. Von solcher Spiritualität geht kein Segen aus, weil sie die Wahrheit überspringt. Die Spiritualität von unten ist eine demütige Spiritualität. Demut (humilitas) kommt von ‘humus = Erde’. Es ist eine geerdete Spiritualität, die die Wüstenväter und Wüstenbewohner leben. Demut bedeutet in diesem Sinne, den Mut, hinabzusteigen in die eigene Erdhaftigkeit, in das Schattenreich der eigenen Seele. Wer diesen Mut aufbringt, der steht mit beiden Beinen auf dem Boden und kann elementare Lebensweisheiten formulieren. Es lohnt sich, sich von den Weisheiten der Wüstenväter inspirieren zu lassen.
Eine Türe will ich dir auftun, hell und voll von Wahrheit: dass es nämlich gut ist, in der Wüste zu wohnen. Wir brauchen die Wüste, weil sonst unser Herz, unsere Seele und unsere Gedanken von allem Möglichen mit Beschlag belegt werden. (Isaak von Antiochien)
Jemand aus dem Kreis der Weisen kam einmal zum heiligen Antonius und hatte folgende Frage: ‘Wie schaffst du es nur, Vater, ein solches Leben zu führen, wo du doch nicht einmal Trost in den Büchern schöpfen kannst?’ Der heilige Wüstenvater antwortete ihm: ‘Mein Buch, verehrter Philosoph, ist die Natur der geschaffenen Dinge, und dieses Buch liegt immer vor mir, wenn ich mich in Gottes Wort vertiefen möchte.’
Sei ein Türhüter deines Herzens und lass keinen Gedanken ohne Befragung herein. Befrage einen jeden Gedanken einzeln und sprich zu ihm: Bist du einer der unseren oder einer unserer Gegner? Und wenn er zum Hause gehört, wird er dich mit Frieden erfüllen. Wenn er aber des Feindes ist, wird er dich durch Zorn verwirren oder durch eine nutzlose Begierde erregen.

‘Bring ein wenig Wüste in dein Leben, verlass von Zeit zu Zeit die Menschen, such die Einsamkeit, um im Schweigen und anhaltendem Gebet deine Seele zu erneuern. Das ist unentbehrlich. Das bedeutet ‘Wüste’ in deinem spirituellen Leben.’ (Wüstenvater Carlo Caretto)

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