Achtsamkeit im Advent

Die Adventszeit gehört zu den besonders ausgefüllten Zeiträumen im Jahreskreis. Gerade in den vier Wochen vor Weihnachten ist daher die Sehnsucht nach Ruhe und Besinnung besonders groß. Doch gerade in dieser Zeit ist es eine große Herausforderung, dass wir die Welt, die uns umgibt mit allen Sinnen bewusst wahrnehmen: uns wundern über die Licht- und Schattenspiele am Morgen und Abend, über eine Musik, die uns tief berührt, über den Geschmack oder Duft einer Frucht. Diese Form von ‘erlebtem Glück’ möchte ich hier als ‘Achtsamkeit’ bezeichnen.

Achtsam sind wir nicht, wenn wir mehrere Dinge gleichzeitig oder automatisiert erledigen, wenn eingeschliffene Gewohnheiten uns steuern oder wir Lösungswege nur aus einer Quelle beziehen. Leicht verlieren wir so im Trubel des Alltags mit seinen vielfältigen Verpflichtungen und Ablenkungen die innere Ruhe. Denn:

‘Immer wenn wir glauben, etwas schon zu wissen, sind wir nicht mehr präsent.’

Der Adventskalender bietet 24 Impulse zum Thema ‘Achtsamkeit’ und kann uns dazu anregen, die unendliche Vielfalt um uns herum achtsam wahrzunehmen. Achtsam sein bedeutet, innere und äußere Vorgänge mit ungeteilter, entspannter Aufmerksamkeit zu beobachten und ‘das ganze Bild’ aufnehmen. Es geht dabei vor allem um ein Wahrnehmen, Erspüren, Loslassen – um zu einer Haltung der Gelassenheit zu finden. Ein Ort, wo dies besonders gut gelingt, ist die Wüste. Und so möchte ich in die Gedanken und Impulse des Adventskalenders auch immer wieder Fotos und Texte von diesem spirituellen Ort einweben.

‘Die wichtigste Stunde ist immer die Gegenwart, der bedeutendste Mensch ist immer der, der dir gerade gegenübersteht, das notwendigste Werk ist stets die Liebe.’ (Meister Eckehart)

1. Dezember

Der Sinn von Wüstenwanderungen im Leben

Was suchst du in dieser Wüste, in dieser Totenstadt.
Was, in dieser einzigen Landschaft, die nichts sagt,
die nichts ausspricht, über die nichts zu sagen ist!
Was willst du hier?
Die Reinheit vor Augen und wovor auf der Flucht,
gehetzt jeden Tag in die Wüste und wieder in die Wüste,
um dort noch mehr Wüste mit den Augen zu trinken.
(Ingeborg Bachmann)

Die Wüste ist schön und schrecklich. So fassen viele Wüstenreisende ihre Erfahrungen zusammen. Wüste – das ist zunächst ein Ort der Dürre und Weite, des Durstes und der Einsamkeit. Sie weckt Bedrohung durch Nachlassen von Kräften und vielerlei Gefahren. Sie ruft Zweifel und Ängste hervor, vom rechten Weg ab zukommen. Sie zeigt mir meine Hilflosigkeit und meine Orientierungsbedürftigkeit auf. Wüste ist seit altersher auch ein Ort der Ruhe und Stille, der Sammlung und Besinnung, der Konfrontation mit mir selbst, der Läuterung und der Reifung. Wüste erleben – das ist eine körperliche, geistige und seelische Herausforderung. Einsamkeit aushalten, Durststrecken überwinden, in der endlosen Weite die Orientierung behalten, das gilt für das konkrete Unterwegssein. Diesen Herausforderungen muss ich mich auch in den Wüstenzeiten meines Lebensalltags stellen. Wüsten und Wüstenzeiten bergen in sich die Chance der Wandlung. Sie symbolisieren einen Zustand seelischer Dürre, Einsamkeit, Suche nach Orientierung. Hier begegne ich mir selbst, richte meine Aufmerksamkeit auf mich und auf den Sinn meines Lebens. Neue Gedanken, Verhaltensweisen und Haltungen entstehen und entfalten sich. Wüste – dieses Symbol weckt Hoffnung.


So wie ich in der Wüste auf Oasen und frisches Wasser treffe, so stoße ich auch in meinen seelischen Wüstenzeiten auf mich beängstigende Fragen: Wie habe ich bisher gelebt? Wie geht es mit mir weiter? Worin besteht der Sinn meines Handelns, meines Lebens?
Wüstenzeiten führen mich zu verschütteten Quellen, brach liegenden Fähigkeiten und neuen Sinnantworten. Sie sind Anstoß zur Veränderung und Einladung zu einer Hoffnung, die innere Dürre, Einsamkeit und Sinnlosigkeit in einen blühenden Garten, in offene Begegnungen und tragende Sinndeutung verwandeln kann. Wenn mich die Hoffnung auf Veränderung trägt, dann entdecke ich in Wüstenzeiten Chancen der Verwandlung – auf dem Weg meines Lebens. Eine Wüstenerfahrung kann den Impuls geben, Dinge zu tun, die ich schon lange hätte tun wollen oder sollen. Oder Dinge nicht mehr zu tun, die ich schon lange gegen mein Gefühl getan habe.

Die Wüste hat eine klare Botschaft:
Sie sagt: LEBE!
Sie sagt: KOMM ZU DIR!
Sie sagt: VERSÖHN DICH MIT DIR!
(Jürgen Werner)