Ein Bild vom Frieden

Es war einmal ein König, der schrieb einen Preis im ganzen Land aus: Er lud alle Künstlerinnen und Künstler dazu ein, den Frieden zu malen und das beste Bild sollte eine hohe Belohnung bekommen.

Alle Malerinnen und Maler im Land machten sich eifrig an die Arbeit und brachten dem König ihre Bilder. Von allen Bildern, die gemalt wurden, gefielen dem König zwei am besten. Zwischen denen musste er sich nun entscheiden.

Das erste war ein perfektes Abbild eines ruhigen Sees. Im See spiegelten sich die malerischen Berge, die den See umrandeten und man konnte jede kleine Wolke im Wasser wiederfinden. Jeder, der das Bild sah, dachte sofort an den Frieden.

Das zweite Bild war ganz anders. Auch hier waren Berge zu sehen, aber diese waren zerklüftet, rau und kahl. Am düsteren grauen Himmel über den Bergen jagten sich wütende Wolkenberge und man konnte den Regen fallen sehen, den Blitz aufzucken und auch fast schon den Donner krachen hören. An einem der Berge stürzte ein tosender Wasserfall in die Tiefe, der Bäume, Geröll und kleine Tiere mit sich riss. Keiner, der dieses Bild sah, verstand, wieso es hier um Frieden gehen sollte.

Doch der König sah hinter dem Wasserfall einen winzigen Busch, der auf der zerklüfteten Felswand wuchs. In diesem kleinen Busch hatte ein Vogel sein Nest gebaut. Dort in dem wütenden Unwetter an diesem unwirtlichen Ort saß der Muttervogel auf seinem Nest – in perfektem Frieden.

Welches Bild gewann den Preis?

Der König wählte das zweite Bild und begründete das so: „Lasst Euch nicht von schönen Bildern in die Irre führen: Frieden braucht es nicht dort, wo es keine Probleme und keine Kämpfe gibt. Wirklicher Frieden bringt Hoffnung, und heißt vor allem, auch unter schwierigsten Umständen und größten Herausforderungen, ruhig und friedlich im eigenen Herzen zu bleiben.“

(Verfasser unbekannt)

Vier Kerzen

Am Adventskranz brannten vier Kerzen. Draußen lag Schnee und es war ganz still. So still, dass man hören konnte, wie die Kerzen miteinander zu reden begannen.

Die erste Kerze seufzte und sagte: „Ich heiße FRIEDEN. Mein Licht gibt Sicherheit, doch auf der Welt gibt es so viele Kriege. Die Menschen wollen mich nicht.“ Ihr Licht wurde kleiner und kleiner und verglomm schließlich ganz.

Die zweite Kerze flackerte und sagte: „Ich heiße GLAUBEN. Aber ich fühle mich überflüssig. Die Menschen glauben an gar nichts mehr. Was macht es für einen Sinn, ob ich brenne oder nicht?“ Ein Luftzug wehte durch den Raum, und die zweite Kerze verlosch.

Leise und sehr zaghaft meldete sich nun die dritte Kerze zu Wort: „Ich heiße LIEBE. Mir fehlt die Kraft weiter zu brennen; Egoismus beherrscht die Welt. Die Menschen sehen nur sich selbst, und sie sind nicht bereit, einander glücklich zu machen.“ Und mit einem letzten Aufflackern war auch dieses Licht ausgelöscht.

Da kam ein Kind ins Zimmer. Erstaunt schaute es die Kerzen an und sagte: „Warum brennt ihr nicht? Ihr sollt doch brennen und nicht aus sein.“ Betrübt ließ es den Blick über die drei verloschenen Kerzen schweifen.

Da meldete sich die vierte Kerze zu Wort. Sie sagte:

„Sei nicht traurig, mein Kind. So lange ich brenne, können wir auch die anderen Kerzen immer wieder anzünden. Ich heiße HOFFNUNG.“

Mit einem kleinen Stück Holz nahm das Kind Licht von dieser Kerze und erweckte Frieden, Glauben und die Liebe wieder zu Leben.

Langsamkeit

Das erste Zeichen seelischer Gelassenheit ist, so meine ich,

innehalten zu können und bei sich zu verharren.

(Seneca)

Ein Sonntagspaziergang in Langsamkeit

Mache einen Spaziergang und gehe dabei halb so schnell wie gewöhnlich. Achte auf alle Details, auf die Leute und die Landschaft um dich herum.

‘Es ist immer gut, etwas Langsames zu tun,

bevor man im Leben eine wichtige Entscheidung trifft.’

(Paulo Coelho, S. 123)

Wenn es nur einmal so ganz stille wäre.

Wenn das Zufällige und Ungefähre

verstummte und das nachbarliche Lachen,

wenn das Geräusch, das meine Sinne machen,

mich nicht so sehr verhinderte am Wachen.

Dann könnte ich in einem tausendfachen

Gedanken …..

(Rainer Maria Rilke)

Träume

Die Reise, die zuvor eine Qual gewesen ist, weil du nur ankommen wolltest, beginnt sich nun in eine Freude zu verwandeln, in die Freude an der Suche und am Abenteuer. Damit nährst du etwas sehr wichtiges, nämlich deine Träume.

Ein Mensch darf nie aufhören zu träumen.

Der Traum ist für die Seele, was Nahrung für den Körper bedeutet. Wir müssen häufig in unserem Leben erfahren, wie unsere Träume zerstört und unsere Wünsche nicht erfüllt werden, dennoch dürfen wir nie aufhören zu träumen, sonst stirbt unsere Seele, und die Agape kann nicht in sie eindringen.

Der gute Kampf ist der, den wir kämpfen, weil unser Herz es so will. Der gute Kampf findet im Inneren des Menschen statt.

Der gute Kampf ist der, den wir im Namen unserer Träume führen. Wenn sie mit aller Macht in unserer Jugend aufflammen, haben wir zwar viel Mut, doch wir haben noch nicht zu kämpfen gelert. Wenn wir aber unter vielen Mühen zu kämpfen gelernt haben, hat uns der Kampfesmut verlassen. Deshalb wenden wir uns gegen uns selber und werden zu unseren schlimmsten Feinden. Wir sagen, dass unsere Träume Kindereien, zu schwierig zu verwirklichen seinen oder nur daher rührten, dass wir von den Realitäten des Lebens keine Ahnung hätten. Wir töten unsere Träume, weil wir Angst davor haben, den guten Kampf aufzunehmen.

Das erste Symptom dafür, dass wir unsere Träume töten, ist, dass wir nie Zeit haben.

Die meistbeschäftigten Menschen, die ich in meinem Leben kennen gelernt habe, waren zugleich auch die, die immer für alles Zeit hatten. Diejenigen, die nichts taten, waren immer müde, bemerkten nicht, wie wenig sie schafften, und beklagten sich ständig darüber, dass der Tag zu kurz sei. In Wahrheit hatten sie Angst davor, den guten Kampf zu kämpfen.

Das zweite Symptom dafür, dass unsere Träume tot sind, sind unsere Gewissheiten.

Weil wir das Leben nicht als ein großes Abenteuer sehen, das es zu leben gilt, glauben wir am Ende, dass wir uns in dem wenigen, was wir vom Leben erbeten haben, weise, gerecht und korrekt verhalten. Wir lugen nur über die Mauern unseres Alltags und hören das Geräusch der zerbrechenden Lanzen, riechen den Geruch von Schweiß und Pulver, sehen, wie die Krieger stürzen, blicken in ihre eroberungshungrigen Augen. Doch die Freude, die unendliche Freude im Herzen dessen, der diesen Kampf kämpft, weil für ihn weder Sieg noch die Niederlage zählt, nur der Kampf an sich, die bleibt uns fremd.

Das dritte Symptom für den Tod unserer Träume ist schließlich der Friede.

Das Leben wird zu einem einzigen Sonntagnachmittag, verlangt nichts Großes von uns, will nie mehr von uns, als wir zu geben bereit sind. Wir halten uns dann für reif, glauben, dass wir unsere kindischen Phantasien überwunden und die Erfüllung auf persönlicher und beruflicher Ebene erlangt haben. Wir reagieren überrascht, wenn jemand in unserem Alter sagt, dass er noch dies oder das vom Leben erwartet. Aber in Wahrheit, ganz tief im Inneren unseres Herzens, wissen wir, dass wir es in Wirklichkeit nur aufgegeben haben, um unsere Träume zu kämpfen, den guten Kampf zu führen.

Wenn wir auf unsere Träume verzichten und den Frieden finden, erleben wir eine kurze Zeit der Ruhe. Doch die toten Träume beginnen in uns zu verwesen, und sie verseuchen, was uns umgibt. Wir beginnen grausam zu den Menschen um uns herum zu werden, und am Ende richten wir diese Grausamkeit gegen uns selber. Dann tauchen Krankheiten und Psychosen auf. Was wir im Kampf vermeiden wollten – die Enttäuschung und die Niederlage -, wird zum einzigen Vermächtnis unserer Feigheit. Und eines schönen Tages haben die toten und verwesten Träume die Luft so verpestet, dass wir nicht mehr atmen können und nur noch den Tod ersehnen, den Tod, der uns von unseren Gewissheiten, unseren Sorgen und von diesem fürchterlichen Sonntagnachmittagsfrieden erlöst.

(Paulo Coelho)

Edelsteinmomente

Jeder Augenblick unseres Lebens ist wie ein kostbarer Stein, der durch Erde und Himmel, Wasser und Wolken strahlt und alles enthält. Das kann eine Wolke am Himmel sein, ein gutes Essen, ein nasser Kieselstein, eine Kerze oder ein Kieselstein. Entscheidend ist, dass ich das Wunder darin entdecke.

Was mir für einen Augenblick kostbar wird, das macht mich reich. Mit wacher Achtsamkeit übt man den Blick auf die ‘Edelstein-Augenblicke im Leben’: Welche Kostbarkeiten sind um mich herum versteckt? Wer sie entdeckt, ist innerlich reich.

Der Kosmos ist voll kostbarer Edelsteine

Heute Morgen möchte ich dir eine Hand voll davon schenken.

Jeder Augenblick deines Lebens ist ein kostbarer Stein,

der durch Erde und Himmel, Wasser und Wolken strahlt und

alles enthält.

Ganz sanft musst du atmen, damit sich die Wunder offenbaren.

Auf einmal hörst du die Vögel singen, und auch die Kiefern

stimmen ein, du siehst die Blumen erblühen, siehst den blauen

Himmel, die weißen Wolken, das Lächeln und den wundervollen

Blick des Menschen, den du liebst.

Du, die reichste Person auf Erden, die du herumgeirrt bist und für

deinen Lebensunterhalt hast betteln müssen, hör auf, das Not

leidende Kind zu sein. Komm wieder und fordere dein Erbe ein.

Wir sollten unser Glück genießen und es allen anderen schenken.

Bewahre diesen Augenblick.

Lass den Strom von Kummer und Elend los und nimm das Leben

ganz in deine Arme.

(Thich Nhat Hanh)

Die Macht der Gewohnheit

Einen Moment warten

Wir meinen oft, in vielen Lebensbereichen schlagfertig sein zu müssen. Möglicherweise tut uns das später leid. Versuche, ein paar Atemzüge zu warten, bevor du reagierst. Du kannst innerlich bis drei zählen oder zweimal ausatmen. In der so gewonnenen kleinen Pause kannst du spüren, wie du normalerweise reagieren würdest. Die kleine Pause gibt dir jetzt aber die Chance, etwas Neues auszuprobieren und etwas anders zu machen als sonst.

Auch Stimmungen und Launen sind Gewohnheiten. Manchmal bemerken wir unsere Stimmungen aber auch gar nicht. So kann es sein, dass wir plötzlich feststellen, wie wir singen oder pfeifen. Und die gewohnten Probleme scheinen heute ganz klein zu sein. Ähnliches gilt für Tage, an denen wir mürrisch sind und vielleicht gar nicht wissen warum. Frage dich, ob es wirklich notwendig ist, sich von der momentanen Stimmung bestimmen zu lassen.

Wegkreuzung – eine lange Geschichte

Seit unendlichen Zeiten zieht die Erde ihre Bahn um die Sonne, empfängt Wärme und Licht. Und der Mond umkreist die Erde, spendet seine silbernen Strahlen, hebt und senkt die Meere.

Hoch oben in den Bergen wuchs ein Kind auf. Spielte sich in klarer Luft und auf sattgrünen Wiesen zur jungen Frau. Packte eines Tages ihr kleines Bündel und sagte zu Vater und Mutter, dass sie gehen wolle, um das Meer zu sehen. Denn während ihrer ganzen Jugend hatte sie sich nichts sehnlicher gewünscht, als einmal im Leben ihren Körper in das schäumende Meerwasser zu legen und auf den Lippen den salzig frischen Atem des Meeres zu spüren. Die junge Frau ging den vertrauten Weg hinab ins Tal. Aber sie hielt nicht in jenem kleinen Dorf, in dem sie immer ihre Milch verkauft hatte. Sie hielt auch nicht bei der kleinen Sennerhütte, wo sie als Kind jedes Mal einige Süßigkeiten und eine kalte, schaumig gerührte Buttermilch bekommen hatte. Sie ging weiter. Weiter als sie je gegangen war an der Hand ihres Vaters. Sie ging, weil sie ein Ziel hatte. Sie wollte ihren Körper im schäumenden Meer baden und den salzig frischen Atem dieser endlosen Weite auf den Lippen spüren. Und so begleitete sie die kleinen Bergbäche, die aufgeregt über die Steine sprangen, suchte sich ihren Weg vorbei an wiederkäuenden Kühen hinunter ins Tal. Viele Menschen traf sie auf ihrem langen Weg. Oft wurde sie eingeladen, doch ein wenig auszuruhen und manchmal wurde ihr auch abgeraten, weiter zu gehen. Der Weg zum Meer sei weit und beschwerlich, wurde ihr gesagt. Aber sie ließ sich nicht beirren. Sie nahm die Gastlichkeit dankbar an und ging weiter den Weg, den sie für sich gewählt hatte, weiter auf dem Weg, der sie zum Meer führen sollte.

Eines Tages, sie war schon sehr müde, kam sie an eine große Wegkreuzung. Der Weg, dem sie bisher gefolgt war, gabelte sich vor einem großen Gebirge in vier Pfade, von denen zwei links und zwei rechts um die Berge herumzuführen schienen. Die junge Frau wusste nicht weiter und setzte sich mitten auf die Kreuzung um zu rasten, Brot zu essen und Wein zu trinken. So saß sie lange Zeit auf der Erde und konnte sich für keinen der vier Wege entscheiden. Jeder schien ihr ungewiss. Eines Tages kamen Fremde an die Kreuzung und fragten die junge Frau, was sie denn hier mache.

“Ich bin unterwegs ans Meer“ gab sie Auskunft, ,aber mein Weg endet hier. Nun weiß ich nicht, welche Richtung ich wählen soll.“ – ,Dann komm doch mit uns“, sagten die Fremden, ,wir sind unterwegs in eine Stadt, die nur einige Stunden von hier entfernt ist“.

Aber die junge Frau wollte ans Meer, im warmen Sand sitzen, sich von der wilden Kraft der Wellen umschäumen lassen und den salzig frischen Atem des Meeres auf den Lippen spüren. Sie bedankte sich bei den Fremden für das Angebot und blieb weiter auf ihrer Wegkreuzung sitzen. Wieder saß sie lange Zeit allein und konnte sich für keinen der Wege entscheiden.

Viele Tage später kam ein einsamer Wanderer und setzte sich zu ihr. Lange Zeit saß er bei ihr und erzählte, was er alles erlebt hatte auf seiner Wanderschaft, wo er schon überall gewesen war, und was er alles erfahren hatte. Er aß mit der jungen Frau Brot und trank mit ihr Wein. Oft saßen sie noch zusammen, um die Sonne hinter den hohen Bergen versinken zu sehen. Und irgendwann fragte er sie, ob sie nicht mit ihm kommen wolle. Er sei unterwegs zu einem Wald ganz in der Nähe, um dort zu jagen. Aber die Frau auf der Wegkreuzung sagte auch ihm, dass sie nicht in einen Wald, sondern ans Meer wolle. Die Wochen vergingen, und mit ihnen wechselten die Jahreszeiten. Die Frau saß auf dem Platz zwischen den Wegen und sah den Wolken nach, die sich übers Gebirge jagten und bunte Blüten der Phantasie an den Himmel malten.

Eines Morgens wurde sie von Fremden geweckt, die unterwegs zu Bauern waren. Sie fragten, ob sie nicht mitkommen wolle, um bei der Ernte zu helfen. Und weil die Frau schon so lange untätig dort gesessen hatte, entschied sie sich, dieses Mal mit den Fremden zu gehen. Sie kamen in ein kleines Dorf, und den ganzen Herbst half sie, die Ernte einzufahren. Es gefiel ihr gut bei den Bauern. Nur eine Sehnsucht blieb in ihr und wuchs und wuchs, während der Winter die Landschaft in stille weiße Träume verpackte.

Sie wollte ans Meer. Und deshalb packte sie an einem klaren Frühlingsmorgen ihr Bündel und sagte den freundlichen Bauern, dass sie wieder gehen wolle, denn sie sei unterwegs ans Meer.

Danach ging sie ihren Weg zurück, bis sie wieder an die große Kreuzung kam. Ratlos setzte sie sich. Wenn sie nur wüsste, welchen dieser Wege sie wählen solle, um endlich an das Ziel ihrer Sehnsucht zu kommen. Sehr lange saß sie an der Wegkreuzung, bis nach Wochen eine Frau kam, die unterwegs war in ein kleines Dorf. Sie wolle dort ihre Waren verkaufen, erzählte sie und fragte die Frau, ob sie nicht Lust hätte, sie zu begleiten. Und weil diese wusste, dass sie allein zu keinem Entschluss kommen würde, ging sie mit der fremden Frau in das kleine Dorf. Es gefiel ihr gut dort. Sie half Hemden und Hosen nähen und später auf dem Markt verkaufen. Aber immer blieb in ihr die Sehnsucht nach dem Meer. Eines Tages hielt sie es nicht mehr aus. Wieder packte sie ihre Habseligkeiten zusammen, verabschiedete sich von der Frau und wanderte zurück an jene große Kreuzung. Hier war ihr inzwischen alles schon so vertraut. Sie suchte sich wieder ihren alten Platz und machte es sich gemütlich. Dann saß sie dort, fast unbeweglich, eine lange, lange Zeit. ihr Haar war inzwischen dünn und grau geworden. Ihr Rücken beugte sich immer mehr unter der Last der sich ständig wiederholenden Jahreszeiten. Noch immer wusste sie nicht weiter, konnte sich einfach nicht entscheiden, welchen dieser Wege sie denn nun wählen solle. Manchmal glaubte sie in stillen, schlaflosen, mondhellen Nächten ein leises, fernes Rauschen zu hören, als ob das Meer sie rufen würde. Und wenn der Nachtwind mit lauem Hauch von den Bergen strich, vermeinte sie sogar auf ihren Lippen einen zarten salzigen Geschmack spüren zu können.

Es war eine solche Nacht, als sie sich entschloss, einfach die Berge hinaufzusteigen. Die Wanderung war sehr beschwerlich. Durch beängstigend verwirrende Felsengärten, dichtes Unterholz und über steil abfallende Grate führte ihr Weg nach oben. Höher und höher stieg sie bei ihrer einsamen Wanderung. Nachts war es längst nicht mehr so warm wie unten an der großen Wegkreuzung. Sie fror und kauerte sich oft hilflos an den nackten, kalten Fels. Manchmal glaubte sie auch, ihre Kraft würde nicht ausreichen. Immer schwieriger schien es, sich die steilen Hänge empor zu quälen, um wieder feststellen zu müssen, dass hinter dem eben erklommenen Gipfel der nächste auf sie wartete. Und dann endlich – sie hatte schon fast nicht mehr daran geglaubt – stand sie ganz oben. Der Wind packte ihr langes, graues Haar, zerwühlte es mit klammen Fingern und riss an ihrer Kleidung. Sie öffnete den Mund, um diese Gewalt in sich hinein zu saugen. Erschöpft und keuchend atmete sie gegen den Wind. Und endlich öffnete sie ihre Augen und blickte sich um. Der Ausblick überwältigte sie. Tief unten entdeckte sie, ganz klein jetzt, die Wegkreuzung, auf der sie so lange gesessen hatte. Sie sah die vier Pfade, die sich dort unten verzweigten. Der eine führte in eine große Stadt, direkt auf den Marktplatz und darüber hinaus. Der andere schlängelte sich durch einen dichten Wald, nahe an ein kleines Häuschen. Aber auch er endete dort nicht.

Der dritte war ihr bekannt: Er wand sich in das Tal zu den Bauern, denen sie bei der Ernte geholfen hatte, kletterte dann über einige kleine Hügel und führte weiter in eine fruchtbare Ebene. Und der vierte traf auf jenes kleine Dorf, in dem sie Hemden und Hosen geschneidert hatte. Doch auch dieser zog durch das Dorf hindurch und weiter. Die alte Frau stand auf dem Gipfel des Berges und zitterte. Die vier Wege trennten sich vor dem Gebirge, umringten es und näherten sich einander in einer weiten Ebene, vereinigten sich und setzten ihre Reise fort bis zum Meer, in dem sich weit entfernt der Horizont zu spiegeln schien. Die alte Frau saß hoch oben auf den Felsen, die vor ihr steil abbrachen und dort hinten jenseits der Ebene, verlor sich ihr suchender Blick in die Unendlichkeit des Meeres. Je länger sie schaute, um so deutlicher glaubte sie das schäumende Wasser zu sehen. Sie meinte fast die tosende Kraft der Wellen zu spüren, die weit vor ihr in die zerfurchten Klippen schlugen und zersprangen. Aber sie konnte nichts hören so weit weg stand sie, hoch oben auf dem Gipfel und wusste, sie hatte nicht mehr die Kraft zurückzugehen an jene große Wegkreuzung, wo sie so lange gesessen hatte. Zurück, um irgendeinen Weg zu wählen, der sie ans Meer bringen würde. Sie hatte keinen dieser Wege gewählt, war keinen Weg zu Ende gegangen. Erst hier, hoch oben auf den Felsen, erkannte sie, dass jeder dieser Wege ans Meer geführt hätte. Und plötzlich wusste sie: Niemals in ihrem Lehen würde der salzig frische Atem grenzenloser Weite ihre Lippen netzen. Und niemals in ihrem Leben würde sie das wild schäumende Wasser des Meeres auf ihrem Körper spüren.

Der wahre Weg

Ein Schüler fragte seinen Lehrer: ‘Was ist der wahre Weg?’

Der Meister antwortete:

‘Der alltägliche Weg ist der wahre Weg.’

Wiederum fragte der Schüler: ‘Kann man diesen Weg erlernen?’

Der Meister sagte: ‘Je mehr du lernst, desto weiter kommst du vom Weg ab.’

Darauf fragte der Schüler:

‘Wenn man dem Weg nicht durch Lernen näher kommen kann, wie kann man ihn erkennen?’

Da sprach der Meister zu ihm:

‘Der weg ist nichts Sichtbares und auch nichts Unsichtbares.

Er ist nichts Erkennbares und auch nichts Unerkennbares.

Suche ihn nicht, lerne ihn nicht, nenne ihn nicht. Sei weit und

offen wie der Himmel, und du bist auf dem wahren Weg.’

Die große Stille

‘Erst mit der großen Stille fängt die Seele an zu schreiben

und lässt uns sanft und sicher werden

und sorgt dafür, dass unsre Augen milde bleiben.’

(Hans Dieter Hüsch)

Eine der wesentlichen Möglichkeiten, wieder in und bei sich anzukommen, ist die Stille. Viele Menschen in unserer Kultur erlauben sich kaum je, diese Stille zu erleben. Hilfreich ist hier vielleicht die Weisheit eines indischen Meisters, der sinngemäß sagt, ihr braucht eure Gedanken, die könnt ihr nicht abschalten, aber hinter diesen Gedanken und dem Lärm ist die Stille immer da. Für die Stille müssen wir nichts tun, wofür wir etwas tun können, ist, sie zu erleben. Da kann äußere Stille allerdings sehr helfen.

‘Die größte Offenbarung ist die Stille.’ (Laotse)

Finde Momente äußerer Stille, damit es dir leichter fällt, in Kontakt mit der Stille zu kommen. Äußere Stille ist wieder eine der Bedingungen, die wir schaffen sollten und auch schaffen können, damit etwas Inneres geschehen kann. Genauer gesagt, erlebbar wird. Es ist hilfreich, das Ziel nicht zu hoch zu stecken. Täglich fünf Minuten ist günstiger als alle paar Wochen eine Stunde. (Luise Reddemann)

‘Zumindest einen Raum oder eine Ecke solltest du für dich haben, wo dich niemand findet, niemand stört, niemand beobachtet. Dort solltest du die Freiheit haben, dich von der Welt zu lösen und dich loszulassen, indem du alle Saiten und Fasern der Spannung löst, die dein Schauen, dein Hören, dein Denken in der Gegenwart anderer Menschen binden. Hast du einen solchen Platz gefunden, sei zufrieden damit und sei nicht verwirrt, wenn dich ein guter Grund davon weg ruft. Liebe ihn und kehre zu ihm zurück, sobald du kannst.’ (Thomas Merton)