1. Dezember

Der Sinn von Wüstenwanderungen im Leben

Was suchst du in dieser Wüste, in dieser Totenstadt.
Was, in dieser einzigen Landschaft, die nichts sagt,
die nichts ausspricht, über die nichts zu sagen ist!
Was willst du hier?
Die Reinheit vor Augen und wovor auf der Flucht,
gehetzt jeden Tag in die Wüste und wieder in die Wüste,
um dort noch mehr Wüste mit den Augen zu trinken.
(Ingeborg Bachmann)

Die Wüste ist schön und schrecklich. So fassen viele Wüstenreisende ihre Erfahrungen zusammen. Wüste – das ist zunächst ein Ort der Dürre und Weite, des Durstes und der Einsamkeit. Sie weckt Bedrohung durch Nachlassen von Kräften und vielerlei Gefahren. Sie ruft Zweifel und Ängste hervor, vom rechten Weg ab zukommen. Sie zeigt mir meine Hilflosigkeit und meine Orientierungsbedürftigkeit auf. Wüste ist seit altersher auch ein Ort der Ruhe und Stille, der Sammlung und Besinnung, der Konfrontation mit mir selbst, der Läuterung und der Reifung. Wüste erleben – das ist eine körperliche, geistige und seelische Herausforderung. Einsamkeit aushalten, Durststrecken überwinden, in der endlosen Weite die Orientierung behalten, das gilt für das konkrete Unterwegssein. Diesen Herausforderungen muss ich mich auch in den Wüstenzeiten meines Lebensalltags stellen. Wüsten und Wüstenzeiten bergen in sich die Chance der Wandlung. Sie symbolisieren einen Zustand seelischer Dürre, Einsamkeit, Suche nach Orientierung. Hier begegne ich mir selbst, richte meine Aufmerksamkeit auf mich und auf den Sinn meines Lebens. Neue Gedanken, Verhaltensweisen und Haltungen entstehen und entfalten sich. Wüste – dieses Symbol weckt Hoffnung.


So wie ich in der Wüste auf Oasen und frisches Wasser treffe, so stoße ich auch in meinen seelischen Wüstenzeiten auf mich beängstigende Fragen: Wie habe ich bisher gelebt? Wie geht es mit mir weiter? Worin besteht der Sinn meines Handelns, meines Lebens?
Wüstenzeiten führen mich zu verschütteten Quellen, brach liegenden Fähigkeiten und neuen Sinnantworten. Sie sind Anstoß zur Veränderung und Einladung zu einer Hoffnung, die innere Dürre, Einsamkeit und Sinnlosigkeit in einen blühenden Garten, in offene Begegnungen und tragende Sinndeutung verwandeln kann. Wenn mich die Hoffnung auf Veränderung trägt, dann entdecke ich in Wüstenzeiten Chancen der Verwandlung – auf dem Weg meines Lebens. Eine Wüstenerfahrung kann den Impuls geben, Dinge zu tun, die ich schon lange hätte tun wollen oder sollen. Oder Dinge nicht mehr zu tun, die ich schon lange gegen mein Gefühl getan habe.

Die Wüste hat eine klare Botschaft:
Sie sagt: LEBE!
Sie sagt: KOMM ZU DIR!
Sie sagt: VERSÖHN DICH MIT DIR!
(Jürgen Werner)

Durch die Wüste zum Leben – eine spirituelle Reise im Advent 2019

Jeden Tag bis Weihnachten öffnet sich auf Sandmeere.de ein neues Türchen des Adventskalenders

Ich glaubte, es wäre ein Abenteuer, aber in Wirklichkeit war es das Leben. (Joseph Conrad)

Die Wüste ist ein Urbild des Menschen. Jeder Reisende, der schon einmal unter dem Sternenhimmel einer Wüste übernachtet hat, kennt ihre Faszination und spirituelle Ausstrahlung. Die unendliche Ausdehnung des Kosmos und die übermenschlichen Dimensionen der Welt werden sichtbar.
Die drei großen Weltreligionen, die einen Gott verehren, sind stark durch Wüstenlandschaften geprägt. Zentrale Glaubens- und Gotteserfahrungen sind untrennbar mit diesem Naturraum verbunden.
Die Wüste ist einerseits ein Ort der absoluten Einsamkeit, der Hitze, Dürre und Todesgefahr. Andererseits strahlt die Schönheit und Reinheit der Landschaftsformen auch einen Zauber aus, der mit Freiheit und Grenzenlosigkeit verbunden ist und viele Menschen zum Nachdenken anregt. In der Wüste wird der Mensch auf ureigene Bedürfnisse zurückgeworfen und ist daher auf die gegenseitige Hilfe und sein Orientierungsvermögen angewiesen.
Auch im Leben eines jeden Menschen gibt es Wüstenabschnitte etwa in Zeiten der Entfremdung von sicher geglaubten Wahrheiten. In Wüsten jeder Art gibt es aber auch Zeichen des Lebens, Oasen zum Auffüllen lebenswichtiger Vorräte. Diese Orte gilt es zu finden. Und so verbindet sich mit der Wüste sowohl die Erfahrung der Dürre und Auszehrung als auch die Hoffnung und des Neubeginns.
Keine Wüste lädt zum Verweilen ein. Sie ist ein atemberaubend schöner, aber auch ein unwirtlicher Ort. Kein Platz, an dem man heimisch werden und sich niederlassen kann. Die Wüste ist ein Ort, den man durchquert. Die Menschen, deren Lebensraum von der Wüste bestimmt wird, gehen nicht ohne Grund in die Wüste. Sie durchqueren sie, weil sie sie durchqueren müssen. Sie haben ein Ziel, das jenseits der Wüste liegt. Wenn sie ihr Ziel erreichen wollen, müssen sie durch die Wüste, müssen sie einen feindlichen Lebensraum durchschreiten, immer auch auf der Suche nach dem sichersten und kürzesten Weg, immer auf der Suche nach Wasser.


In der Wüste sein heißt unterwegs sein, nicht nur in einer räumlichen, sondern auch in einer seelischen Dimension. Wanderer in der Wüste sein heißt auch Wanderer zu sich selbst sein, das eigene ‘Seelengepäck’ auf dem Rücken. Die Frage nach dem Ziel einer Wanderung durch die Wüste hat der Dichter Novalis mit einfachen Worten beantwortet: ‘Wo gehen wir denn hin? – Immer nach Hause!’ So ist der Weg durch die Wüste immer auch ein Weg zu uns selbst, ein Weg zu unserer Seele.
Ich möchte mit dem Kalender dazu einladen, die Zeit im Advent zu nutzen, um sich auf den Weg durch die Wüste zu machen – als Symbol der Reise in unser Inneres. Uns dabei inspirieren zu lassen von den Weisheiten und Anregungen der Wüstenreisenden. Und in der Hoffnung, dass wir letztendlich – wie die drei Weisen aus dem Morgenland – zu einem ‘weihnachtlichen’ Ort gelangen, der als Sinnbild für ein erfülltes Leben steht.

Reisen heißt leben lernen. (Sprichwort der Tuareg)