Des Königs leere Kammer

Ein König war über die Maßen reich und freigiebig. Es verging kein Tag, ohne dass er aus seinem großen Vermögen allen, die es nötig hatten, reichlich ausgeteilt hätte. Und obwohl er viel gab, wurden seine Schatzkammern nicht leer. Jeden Morgen ging er in das unterirdische Gewölbe, in dem die Schatzkammern lagen. Bevor er aber mit dem Schlüssel öffnete, ging er zu einer Kammer, die zuhinterst lag und deren Tür als einzige Tag und Nacht bewacht wurde. So oft er die geheime Kammer öffnete, ließ er die Wache wegtreten, sodass niemand auch nur einen Blick hineinwerfen konnte. Dann schloss er die Türe hinter sich zu und blieb eine Stunde darin. Wenn er wieder herauskam, schloss er sorgfältig ab und rief erst dann die Wache wieder herbei. So geschah es Tag für Tag und Jahr für Jahr. Alle wussten es und verwunderten sich darüber. Viele flüsterten, er treibe im Geheimen Zauberei. Einige munkelten, er stehe mit dem Teufel im Bund und vermehre mit dessen Hilfe seine Schätze. Auch seine Familie vermutete, dass er irgendetwas Geheimnisvolles tue. Aber niemand wagte ihn zu fragen.

Als er alt geworden war, rief er eines Abends seinen ältesten Sohn zu sich und sagte zu ihm: ‘Ich bin alt und werde bald sterben. Du wirst nach mir König sein. Ich will dir nun das Geheimnis unseres Reichtums zeigen. Aber schwöre mir zuerst, dass du keinem Menschen etwas davon verraten wirst und es erst deinem Sohn wieder anvertrauen wirst, wenn du selber alt geworden bist.’ Der Sohn schwor es.

Dann nahm der König ihn mit sich und führte ihn in die geheime Kammer. Als sie eingetreten waren, blickte sich der Sohn nach allen Seiten um und griff dann erschrocken nach dem Arm des Vaters. Die Kammer war ganz leer. Der König fragte ihn: ‘Wovor erschrickst du? Was siehst du?’ Der Sohn antwortete: ‘Ich sehe nichts. Darum erschrecke ich.’ Der König sagte zu ihm: ‘Ich werde dich für diese Nacht hier einschließen und du sollst über die Kammer nachdenken.’ Der Sohn umklammerte entsetzt den Vater. Der aber umarmte ihn, löste sich von ihm und schloss ihn ein.

Als er am nächsten Morgen die Kammer öffnete und eintrat, sah er den Sohn am Boden liegen, den Mantel über den Kopf gezogen. Er hob ihn auf und fragte: ‘Worüber hast du in dieser Nacht nachgedacht?’ Der Sohn antwortete: ‘Ich konnte nichts denken. Aber ich werde diese Kammer zumauern.’ Der König erwiderte nichts und führte ihn hinaus. Am Abend schloss er ihn wiederum ein und sagte zu ihm: ‘Denke über die Kammer nach.’ Am anderen Morgen fand er den Sohn bleich und trotzig an einer Mauer gelehnt sitzen und fragte ihn wiederum. ‘Worüber hast du in dieser Nacht nachgedacht?, wollte der Vater wissen. Der Sohn antwortete: ‘Ich habe darüber nachgedacht, womit ich die Kammer füllen werde.’ Der König antwortete nichts und führte ihn hinaus. Am dritten Abend schloss er ihn abermals ein und sagte zu ihm: ‘Denke auch in dieser Nacht darüber nach!’ Als der König am nächsten Morgen in die Kammer eintrat, stand der Sohn vom Boden auf und rieb sich die Augen. ‘Worüber hast du diese Nacht nachgedacht?’, fragte der König. Der Sohn antwortete: ‘Ich weiß nicht, ich habe die ganze Nacht tief geschlafen.’

Da lächelte der König, umarmte ihn und sagte: ‘Dann hast du das Geheimnis der Kammer verstanden. Komm nun mit und hilf mir bei der täglichen Austeilung.’ Er schloss die Kammer sorgfältig zu und ging dann mit dem Sohn in die Schatzkammern und holte mit ihm heraus, was für den Tag nötig war.

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