Lebenslinien

Wir biegen um die nächste Düne und stehen unvermittelt in einem kleinen Wüstencamp. Natürlich haben uns die dort lebenden Nomanden bereits entdeckt und begrüßen uns in ihrer Runde. Um uns herum gruppieren sich mehrere Frauen und eine Schar fröhlich lachender Kinder. Die Gastfreundschaft der Nomaden tut gut, wir werden zu einem Platz im Schatten eines Zeltes geführt, ein Tee wird gereicht, ein Stück Brot angeboten, eine Flasche köstlich kühler Kamelstutenmilch macht die Runde. Keine Frage: Wir sind auch zum Mittagessen herzlich eingeladen und es gibt – wen wundert’s: Couscous. Die alte, fast erblindete Frau ist offensichtlich als Clan-Älteste für das Wohl der Gäste verantwortlich. Wie alt mag sie sein? Ihr Gesicht ist gezeichnet vom Leben in der Wüste. Jede Falte könnte wohl eine Geschichte aus ihrem Leben als Nomadin in der Sahara erzählen. Auch Spuren einer Tätowierung erkennt man am Kinn – dieser Gesichtsschmuck ist eine alte Tradition der Wüstennomaden, der darüber hinaus die Stammeszugehörigkeit repräsentiert. Unwillkürlich verliere ich mich beim Betrachten dieses ausdrucksstarken ‚erzählenden‘ Gesichtes, tauche mit meiner Fantasie ein in die Geschichten, die diese Frau erlebt haben mag und bin angerührt von so viel Würde, Stolz, Zufriedenheit und Glück im Gesichtsausdruck dieser Frau.

Das erste Zeichen seelischer Gelassenheit ist, so meine ich, innehalten zu können und bei sich zu verharren.

(Seneca)

Blick nach innen

Mein Wunsch an uns wäre: die Fähigkeit, sich mit den Abgründen des eigenen Lebens zu versöhnen; die Fähigkeit, sich mit sich selbst zu versöhnen. Es gibt einen Schmerz, den ich nicht verbannen will, aber der mich nicht bannen soll. Es ist der Schmerz darüber, was man im Leben verraten hat und was man dem Leben schuldig geblieben ist. Ich war Subjekt in meinem Leben, Subjekt meiner Taten und meiner Untaten, das ist meine Würde. Davon lasse ich mich nicht trennen, aber ich lasse mir davon auch nicht den Atem nehmen. Reinheit ist nicht Makellosigkeit, es ist die Fähigkeit, den eigenen Makel zu betrachten und vor den eigenen Abgründen nicht zu fliehen. Das löscht die Heiterkeit des Lebens nicht aus. Gefährlich ist es nur, wo die Reue gewaltiger ist als die Dankbarkeit. Sich nicht ausweichen, sich ruhig ansehen, ohne zu verzweifeln, und sich annehmen mit dem eigenen Verrat – das wäre Lebensgröße. Aber in schmerzlicher Heiterkeit gesagt: Auch das wird uns Menschen nur halb gelingen. Wir sind Fragment.

(Fulbert Steffensky)

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