Weggefährten: Die Karawane meines Lebens
‘Ich breite meine Seele aus, wie ein Araber seinen Teppich, und bete still zu Sonne um deine Liebe. Sähest du mich knien im weißen Burnus meiner Zärtlichkeit, du würdest nicht vorüberziehen, weit am Horizont, mit deiner Karawane.’
‘Die Wüste bestand bald aus Sand und bald aus Stein. Wenn die Karawane auf einen Felsbrocken stieß, dann umging sie ihn weitläufig. Wenn der Sand zu weich für Kamelhufe war, dann suchte sie einen Umweg, wo der Sand widerstandsfähiger war. Manchmal war der Boden, wo einst ein See existiert haben musste, mit Salz überzogen. Dann streikten die Tiere und die Kameltreiber stiegen ab und entluden sie. Dann packten sie sich die Lasten auf die eigenen Schultern, überquerten das schwierige Gelände und beluden die Tiere aufs Neue. Nie aber verlor die Karawane ihr Ziel aus den Augen, wie viele Umwege sie auch machen mussten. Sowie alle Hindernisse überwunden waren, stand wieder der Stern vor ihnen am Himmel und wies ihnen die Richtung, in der sich die Oase befand. Wenn die Leute gegen Morgen den leuchtenden Stern am Firmament sahen, wussten sie, dass er einen Ort mit Frauen, Wasser, Datteln und Palmen zeigte. Der Jüngling betrachtete schweigend den Mond und den weißen Sand. Endlich sage er: ‘Ich habe die Karawane auf ihrem Marsch durch die Wüste beobachtet. Sie und die Wüste sprechen dieselbe Sprache, und darum darf sie diese auch durchqueren. Die Karawane überlegt sich jeden Schritt, um auch ja mit der Wüste im Einklang zu sein, und wenn sie es ist, dann wird sie auch die Oase erreichen. Wenn einer von uns hierher käme, mit sehr viel Mut, jedoch ohne diese Sprache zu beherrschen, dann würde er schon am ersten Tag sterben.’ Beide betrachteten sie gemeinsam den Mond. ‘Das ist die Magie der Zeichen’, fuhr der Jüngling fort. ‘Ich konnte beobachten, wie die Führer die Zeichen der Wüste erkennen und wie die Seele der Karawane sich mit der Seele der Wüste verständigt.’
Ich muss unterwegs sein. Bewegung ist der Herzschlag der Karawane. Und ich weiß: Ich gehe meinen Weg durch die Wüste nicht alleine!’
Auch wenn keiner an meiner Seite geht, keiner mir im Schein des Feuers zuhört, so gibt es doch Menschen, die mit mir gehen, deren Spuren ich folge, deren Erfahrungen ich mit mir trage im geistigen Reisegepäck. Es sind die Menschen, die das Gleiche getan haben, was auch ich tue, die von derselben Sehnsucht, denselben Hoffnungen und Träumen getrieben wurden. Sie sind meine Weggefährten, die mich begleiten, deren Gedanken mich inspirieren, es ihnen auf die eine oder andere Weise gleichzutun. Sie sind meine Vorgänger, die meinen Weg vor mir beschritten haben. Ich gehe meinen Weg nicht alleine. Magisch zieht die Wüste Menschen an – und das bis auf den heutigen Tag. Durch fremde und wilde Landschaften zu wandern hat eine lange Tradition. Dem Geist der Freiheit und der Selbstfindung, der aus den Büchern vieler Wüstenreisender spricht, fühle ich mich verpflichtet. Sie sind meine Weggefährten, denn sie haben mich ‘in die Wüste geschickt’: voller Neugier und Mut, voller Lust, Fremdes zu entdecken, und voller Bereitschaft, sich von diesem Fremden berühren und auch verändern zu lassen.’ (Jürgen Werner)
‘Jedes Erlebnis mit der Wüste wird uns zeigen, wie wesentlich für uns der andere Mensch ist, der Begleiter, der uns hilft zu überleben. Denn erst in der Wüste erkennt man einen guten Weggefährten.’ (Arabische Weisheit)
Ein anderer wichtiger Wegbegleiter in der Wüste ist das Kamel. In der Beschreibung seiner Spezies wird ihm oft Unrecht getan. Denn ohne das Kamel, das Dank seiner hervorragenden Anpassung an den Lebensort Wüste endlose Strecken durch Sand und Stein zurücklegen kann, gäbe es keine Karawanenstraßen, keinen Handel und keinen kulturellen Austausch. Die Tiere sind wie geschaffen für das extreme Klima. Ihre Bedeutung würdigend wird den Kamelen im Orient nachgesagt, sie wüssten den hundersten Namen Gottes:
‘Auf den Fluren von Bethlehem weidete das Schaf Gimel. Während es den anderen Schafen genügte, Gras und würzige Kräuter zum Fressen zu finden, sehnte sich Gimel danach den Geheimnissen des Lebens auf die Spur zu kommen. So erfuhr Gimel, dass Gott am Anfang Himmel und Erde erschaffen hatte. Gerade hier in Bethlehem wussten alle Geschöpfe viel von Gott zu erzählen. Die einen nannten ihn König, andere Herr, viele auch Vater und Mutter oder Hirt. Manchmal erklangen auch fremde Namen wie Adonai und Elohim. Gimel lernte mit der Zeit immer mehr Namen Gottes kennen, bis es 99 waren. Einen hundersten Namen konnte ihm aber niemand sagen. Da wurde Gimel ganz traurig, denn er hätte gern hundert Namen von Gott gekannt. Eines Tages begegnete ihm der Esel Bileam. Als Gimel ihn nach dem hundersten Namen Gottes fragte, antwortete der Esel: ‘Wenn du den hundersten Namen Gottes erfahren willst, musst du in die Wüste gehen. In einer Oase wohnt das weise Kamel Sulamith. Das kennt den hundersten Namen Gottes.’ Sogleich machte sich Gimel auf den Weg. Doch der Weg in die Wüste war beschwerlich. Die Sonne brannte erbarmungslos vom Himmel und es gab keinen Baum, der ihm Schatten spendete. An einen Brunnen mit frischem Wasser war überhaupt nicht zu denken. Und nirgends war auch nur ein Grashalm zu entdecken. Überall waren nur Sand und Steine. Schon wollte Gimel umkehren, als er in der Ferne einige Palmen entdeckte. Und als er näher kam, hörte er auch eine Quelle rauschen. Gimel war überglücklich, als ihn plötzlich ein großes Kamel ansprach. Es war die weise Sulamith. Sie sagte mit freundlicher Stimme: ‘Ich weiß, warum du gekommen bist. Du möchtest den hundersten Namen Gottes erfahren. Ich will ihn dir verraten.’ Und Sulamith kniete langsam nieder, machte sich ganz klein und flüsterte Gimel den hundersten Namen Gottes ins Ohr. Da ging ein Leuchten über sein Gesicht, seine Sehnsucht hatte sich erfüllt. Glücklich und zufrieden kehrte Gimel zu seinen Schwestern und Brüdern auf den Fluren von Bethlehem zurück. Und wenn auch du den 100. Namen Gottes erfahren möchtest, mache dich auf den Weg, geh in die Wüste und irgendwo wirst du in einer Oase Sulamith treffen, die dir den hundersten Namen Gottes ins Ohr flüstert.’