9. Dezember

Vernehme die zeitlose Poesie des Sandes

‚So gibt es in manchen Zeiten des Lebens Augenblicke, in denen nichts Außergewöhnliches geschieht, die man aber wegen ihrer unsäglichen Sanftheit nie vergisst. Ja, ich liebe die Sahara! Ich liebe sie mit einer dunklen, geheimnisvollen, tiefen, unerklärlichen, aber durchaus wirklichen und unzerstörbaren Liebe.‘ (Isabelle Eberhardt)

‘Sand-Wüste, Ächtung des Lebens, nichts atmet mehr als der Wind. Samtener Sand im Schatten, schillernd am Abend und am Morgen mattgrau wie Asche. Es gibt ganz weiße Täler zwischen den Dünen; wir durchschritten sie auf Maultieren; der Sand schloss sich wieder über unseren Spuren. – So müde war man, dass man vor jeder Düne meinte, nie käme man hinüber. Ich habe dich mit Inbrunst geliebt, Sandwüste. O wenn dein kleinstes Stäubchen an seinem Ort vom Weltall mir erzählen könnte!- Wo kommst du her, Stäubchen? Aus welchem längst vergangenen Leben entstandest du? Von welcher Liebe gibst du mir Kunde? – Staub will gepriesen sein. Meine Seele, was hast du auf dem Sande gesehen?’ (André Gide)
Wir lernen beim Gehen nicht in großen Dimensionen zu denken, sondern im einzelnen Schritt. Dem Schritt, der dem folgenden vorausgeht und dem gegangenen nachfolgt. Das ist unser Universum, der einzelne Schritt, wie viel tausend Mal wir ihn auch gehen an diesem Tag. Das könnte ein Sinnspruch sein, das wir auf unsere Reise mit nehmen, damit wir der Gleichförmigkeit des Gehens besser gewachsen sind. Betrachte jeden Schritt wie ein kostbares Juwel, einzigartig und doch wertlos ohne die Gesamtheit der Schritte, die ihn umgeben und dich schließlich an dein Ziel bringen. Denn so wenig ein einzelnes Sandkorn eine Wüste ist, so sehr ist es doch ein unverzichtbarer Teil des ganzen. So macht der Schritt das Gehen aus. Wie das Sandkorn die Wüste.

Was für das Wandern in der Wüste gilt, gilt auch für unseren Alltag: Gehen durch den Sand, mit wachen Sinnen, immer darauf bedacht, das richtige Schritttempo zu finden, und uns an die Erfordernisse der Umwelt anzupassen. Wenn wir lernen, flexibel zu sein, und das richtige Tempo für die jeweilige Lebenssituation finden, wenn wir lernen, uns so schnell oder langsam zu bewegen, wie es gerade nötig ist, dann haben wir die Chance, dem Diktat der Zeit zu entfliehen. Zu lernen, unser Lebenstempo selbst zu gestalten und sensibel zu werden für den Takt des Lebens, ist ein wirkungsvolles Mittel gegen Stress und Unzufriedenheit. Vielleicht gelingt es uns zu begreifen, wie unsinnig unsere Konzepte von Zeit oft sind, und vielleicht können wir etwas von der Klugheit gewinnen, die auch Saint-Exupérys kleiner Prinz in der gleichnamigen Geschichte besitzt:
‘Guten Tag’, sagte der kleine Prinz. ‘Guten Tag’, sagte der Händler. Er handelte mit höchst wirksamen, durststillenden Pillen. Man schluckt jede Woche eine und spürt überhaupt kein Bedürfnis mehr zu trinken. ‘Warum verkaufst du das?, sagte der Prinz. ‘Das ist eine große Zeitersparnis .. Man erspart dreiundfünfzig Minuten in der Woche.’ ‘Und was macht man mit diesen dreiundfünfzig Minuten?’ ‘Man macht damit, was man will.’ ‘Wenn ich dreiundfünfzig Minuten übrig hätte,’, sagte der kleine Prinz, ‘würde ich ganz gemächlich zu einem Brunnen laufen …’.

Zeit sparen, die Zeit effektiv nutzen, optimales Zeitmanagement, Zeitmangel, Zeitdruck: Dies sind die Erfahrungen und Kategorien, mit denen wir in unserem Alltag mit dem Phänomen Zeit gewöhnlich konfrontiert werden. Ob wir wollen oder nicht, wir sind dazu gezwungen, Zeit zu zerstückeln, sie zu bewerten und zu ordnen. So gibt es für uns ‘wichtige’ und ‘unwichtige’ Zeit, ‘Arbeitszeit’ und Freizeit, ‘zeitlichen Leerlauf’ und ‘stressige Zeit’. Wir sind darauf fixiert, Zeit als ein beschränktes Gut zu erleben. Deshalb setzen wir alles daran, uns unsere Zeit ‘richtig’ einzuteilen. Aber egal, wie geschickt wir unseren Tag auch ‘verplanen’, am Ende haben wir doch das Gefühl, dass uns die Zeit nicht reicht für all das, was wir uns vorgenommen haben. Die Zeit läuft uns davon, und je schneller wir ihr hinterher hecheln, umso weiter sind wir davon entfernt, Zeit zu finden für Dinge, die wir so gerne tun würden. Sind wir in der Wüste, fallen wir aus unserer Zeit. Was normalerweise unser Leben diktiert, verliert in der Wildnis der Wüste jede Bedeutung. In der Wüste herrscht eine andere Zeit. Wann wir etwas tun und was wir tun, wird ausschließlich von der Natur und den Fähigkeiten und Bedürfnissen unseres Körpers bestimmt. Die Wüste setzt uns Grenzen. Die Gegebenheiten der Natur bestimmen den Rhythmus des Tages, die Kraft unseres Körpers und die Beschaffenheit des Weges bestimmen den Rhythmus unserer Schritte. Wir fallen heraus aus unserer Zeit, denn die Wüste ist ein Raum, in dem eine andere als die uns vertraute Zeit herrscht. So erleben wir Zeit nicht mehr als Mangel, sondern als Raum: Zeitraum des Gehens, Zeitraum des Ruhens. Der Raum der Wildnis schriebt uns unser Verhalten vor und schenkt uns Zeit. Wir fallen aus unserer Zeit hinein in eine andere, eine Wüstenzeit, die sich uns zum Geschenk macht. Die Wüste entschleunigt uns. Das Gehen hilft uns dabei, denn es führt uns zurück zu einem sehr ursprünglichen Erleben von Zeit: Das Zeitgefühl des Menschen ist immer an die Zeitdimension seines Körpers und der Körperwahrnehmungen gebunden. Die entscheidende Zeiteinheit dabei ist der Pulsschlag. Schritt für Schritt, so dass sich unser gehen in Übereinstimmung mit den Gegebenheiten der Landschaft befindet, so schlägt unser Herz im Einklang mit dem, was wir gerade tun. Die Wüste kann uns zeigen, dass Zeit eine sehr subjektive Konstruktion ist und wir selbst es in der Hand haben, wie wir sie erfahren. Wie wir selbst Zeit erleben, hängt davon ab, wie wir uns selbst und der Welt begegnen.

An meinem Pulsschlag will ich festhalten gegen die Rhythmen der anderen.

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