Mit wenigen Worten werden in Geschichten oft Lebensweisheiten einprägsam wiedergegeben, die auch in manchen Situationen Orientierung bieten können. Dazu zählt auch die folgende Geschichte.
Ganz aufgeregt kam ein Mann zu einem Weisen gerannt: „Ich muss dir etwas erzählen. Dein Freund …“
Der Weise unterbrach ihn: „Halt!“ Der Mann war überrascht.
„Hast du das, was du mir erzählen willst, durch die drei Siebe gesiebt?“, fragte der Weise.
„Drei Siebe?“, wiederholte der Mann verwundert.
„Richtig, drei Siebe! Lass uns prüfen, ob das, was du mir erzählen willst, durch die drei Siebe passt. Das erste Sieb ist die Wahrheit.
Ist das wahr, was du mir erzählen willst?“
„Ich habe es selber erzählt bekommen und …“
„Na gut. Aber sicher hast du es mit dem zweiten Sieb geprüft. Das zweite Sieb ist das der Güte.
Wenn es nicht sicher wahr ist, was du mir erzählen möchtest, ist es wenigstens gut?“
Zögernd antwortete der Mann: „Nein, im Gegenteil …“
„Dann”, unterbrach ihn der Weise, „lass uns auch noch das dritte Sieb anwenden.
Ist es wichtig und notwendig, es mir zu erzählen, was dich so aufregt?“
„Wichtig ist es nicht und notwendig auch nicht unbedingt.“
„Also mein Freund“, lächelte der Weise, „wenn das, was du mir erzählen willst, weder wahr noch gut noch notwendig ist, so lass es lieber sein und belaste dich und mich nicht damit.“
Die folgende Achtsamkeitsübung stammt von einem Zen-Meister.
‘Wenn ihr eine Mandarine schält, dann könnt ihr sie mit Achtsamkeit essen oder ohne Achtsamkeit. Esst ihr eine Mandarine achtsam, so ist euch bewusst, dass ihr eine Mandarine esst. Ihr erfahrt vollkommen ihren lieblichen Duft und ihren süßen Geschmack. Schält ihr die Mandarine, so wisst ihr, dass ihr eine Mandarine schält. Nehmt ihr ein Stück und steckt es in euren Mund, so wisst ihr, dass ihr ein Stück nehmt und es in euren Mund steckt. Empfindet ihr den lieblichen Duft und den süßen Geschmack, dann wisst ihr, dass ihr den lieblichen Duft und den süßen Geschmack empfindet. Die Mandarine, die mir gereicht wurde, hatte neun Teile. Jeden Bissen aß ich ganz bewusst und achtsam, und so erlebte ich, wie kostbar und wundervoll er war. Ich vergaß die Mandarine nicht und daher wurde sie für mich etwas sehr Wirkliches. Ist die Mandarine wirklich, dann ist der Mensch, der sie isst, auch wirklich. Das bedeutet, eine Mandarine mit Achtsamkeit zu essen.
Was aber bedeutet es, eine Mandarine ohne Achtsamkeit zu essen? Esst ihr eine Mandarine so, dann ist euch nicht bewusst, dass ihr eine Mandarine esst. Ihr empfindet nicht ihren lieblichen Duft und ihren süßen Geschmack. Schält ihr die Mandarine, so wisst ihr nicht, dass ihr eine Mandarine schält. Nehmt ihr ein Stück und steckt es in euren Mund, so wisst ihr nicht, dass ihr ein Stück nehmt und es in euren Mund steckt. Riecht ihr den Duft der Mandarine und schmeckt ihr sie, so wisst ihr nicht, dass ihr den Duft der Mandarine riecht und sie schmeckt. Esst ihr die Mandarine auf diese Weise, so könnt ihr nicht ihre kostbare, wundervolle Natur wert schätzen. Ist euch nicht bewusst, dass ihr eine Mandarine esst, so ist die Mandarine nicht wirklich. Ist die Mandarine nicht wirklich, dann ist auch die Person, die sie isst, nicht wirklich. Das bedeutet, eine Mandarine ohne Achtsamkeit zu essen.
Eine Mandarine achtsam zu essen bedeutet, wirklich in Berührung mit ihr zu sein, während ihr sie esst. Euer Geist jagt nicht den Gedanken von gestern oder morgen hinterher, er bleibt vielmehr vollkommen im gegenwärtigen Moment. Die Mandarine ist wirklich gegenwärtig. In Achtsamkeit und Bewusstheit leben bedeutet im gegenwärtigen Moment leben; euer Geist und Körper verbleiben wirklich im Hier und Jetzt. Ein Mensch, der achtsam ist, kann Dinge in der Mandarine sehen, die andere nicht erkennen können. Ein bewusster Mensch kann den Mandarinenbaum sehen, die Mandarinenblüte im Frühling, das Sonnenlicht und den Regen, die beide die Mandarine nährten. Schaut ihr ganz genau, könnt ihr die zehntausend Dinge sehen, die die Mandarine möglich gemacht haben. Betrachtet ein Mensch eine Mandarine mit Bewusstheit, so kann er alle Wunder dieses Universums darin erkennen; ebenso kann er sehen, wie die Dinge aufeinander einwirken. Unser tägliches Leben kann man gut mit einer Mandarine vergleichen. So wie eine Mandarine aus einzelnen Stücken besteht, so besteht ein Tag aus vierundzwanzig Stunden. Eine Stunde ist wie ein Stück der Mandarine, und die vierundzwanzig Stunden eines Tages zu leben ist wie das Essen aller Mandarinenstücke. Der Pfad, den ich gefunden habe, ist der Pfad, jede Stunde des Tages in Bewusstheit zu leben, mit Geist und Körper im gegenwärtigen Moment zu leben. Das Gegenteil ist ein Leben in Unachtsamkeit und Achtlosigkeit. Leben wir unachtsam, dann wissen wir nicht, dass wir lebendig sind. Wir erfahren das Leben nur unvollständig, denn unser Geist und unser Körper verweilen nicht im Hier und Jetzt.’
Nach einem anstrengenden Tag bemerkst du vielleicht gar nicht, dass du ruhebedürftig bist. Vielleicht trinken wir Kaffee und eilen zum nächsten Termin, anstatt uns auszuruhen. Und vermutlich schlafen wir dann auch noch schlecht, weil wir aufgedreht sind. Achte in den nächsten Tagen besonders auf die Signale deines Körpers, die dich dazu anhalten, dir eine Ruhepause zu gönnen. Achte darauf, was dich davon abhalten könnte, eine kleine Pause einzulegen. Wie könntest du das verändern?
Das Recht auf sich selbst
‘Wenn also alle Menschen ein Recht auf dich haben, dann sei auch du selbst ein Mensch, der ein Recht auf sich selbst hat. Warum solltest einzig du selbst nichts von dir haben? Wie lange schenkst du allen anderen deine Aufmerksamkeit, nur nicht dir selber? Bist du dir etwa selbst ein Fremder? Bist du nicht jedem fremd, wenn du dir selber fremd bist? Ja, wer nicht sich selbst schlecht umgeht, wie kann der gut sein?
‘Mandala’ bedeutet einfach ‘Kreis’. Der Kreis wird definiert durch eine Mitte, er lebt von ihr. Auch unser Leben gewinnt seine innere Form durch den Mittelpunkt, um den es sich bewegt. Mandalas spielen eine besondere Rolle als Werkzeug zur Versenkung. Berühmt sind die Mandalas tibetischer Mönche: riesige Figuren, die in wochenlanger Arbeit aus farbigem Sand auf dem Boden ausgelegt werden. Ist das Mandala fertig, wird es zerstört. Es geht nicht um das fertige Kunstwerk, sondern um den Vorgang seiner Herstellung. Der Weg ist das Ziel. Stille gehört zum Mandala-Malen dazu und stellt sich gewissermaßen von selbst ein. Wenn man Mandalas malt, wird man nach und nach ganz von selbst ruhig und konzentriert sich auf das Bild. Stille hilft, den Weg nach innen zu finden. Die Suche nach der Mitte, zu der das Mandala einlädt, ist die Suche nach der Ganzheit, der Versöhnung der Gegensätze, der Aufhebung der Pole. Kraft und Energie warten in diesem innersten Zentrum ebenso auf uns wie die Ausgeglichenheit, Ruhe und Gelassenheit.’ (Marion Küstenmacher)
‘Die ein gutes Leben beginnen wollen,die sollen es so machen wie einer,der einen Kreis zieht.
Hat er den Mittelpunkt des Kreisesrichtig angesetzt und steht der fest,so wird die Kreislinie gut.
Das soll heißen:Der Mensch lerne zuerst,dass sein Herz fest bleibe in Gott,so wird er auch beständig werdenin allen seinen Werken.’
Einmal kam ein Mann zum Meister. Er bat ihn darum, ihm einige Weisheiten aufs Papier zu schreiben, damit er sie mitnehmen und immer wieder darauf schauen könnte.
Der Meister nahm einen Pinsel zur Hand und schrieb nur ein einziges Wort auf: „Achtsamkeit“.
Der Mann schaute enttäuscht.
„Das kann doch nicht alles sein, oder? Bitte schreib noch etwas dazu.“
Wieder griff der Meister zum Pinsel und schrieb „Achtsamkeit. Achtsamkeit.“
„Vergebt mir, aber das scheint mir weder sehr weise noch tiefsinnig zu sein.“ sagte der Mann.
Daraufhin schrieb der Meister: „Achtsamkeit, Achtsamkeit, Achtsamkeit“.
Der Mann fühlte sich vom Meister veralbert und wurde wütend.
„Was soll den Achtsamkeit überhaupt bedeuten?“ rief er.
Da sagte der Meister: „Achtsamkeit heißt Achtsamkeit.“
Es war einmal eine wundervolle Oase. Sie grünte in einer Pracht, die schöner kaum sein konnte. – Eines Tages blickte die Oase um sich, sah sie aber nichts anderes als die Wüste rings um sich. Vergebens suchte sie nach ihresgleichen und wurde ganz traurig. Laut begann sie zu klagen:
“Ich unglückliche, einsame Oase! Allein muss ich bleiben! Nirgends meinesgleichen. Nirgends jemand, der Freude an mir und meiner Pracht hat. Nichts, als die traurige, sandige, felsige, leblose Wüste umgibt mich. Was helfen mir hier in meiner Verlassenheit all meine Vorzüge und Reichtümer?”
Da sprach die alte und weise Mutter Wüste: “Mein Kind, wenn es denn anders wäre und nicht ich – die traurige, dürre Wüste – dich umgäbe, sondern wenn alles um dich herum blühend, grün und prachtvoll wäre, dann wärst du keine Oase. Du wärst dann kein begünstigter Fleck, von dem, noch in der Ferne die Wanderer rühmend erzählen. Du wärst dann nur ein kleiner Teil von mir und bliebest unbemerkt. Darum also ertrage in Geduld, was die Bedingung deiner Auszeichnung und deines Ruhmes ist!”
Achte auf deine Gedanken, denn sie werden deine Worte. Achte auf deine Worte, denn sie werden deine Taten. Achte auf deine Taten, denn sie werden deine Gewohnheiten. Achte auf deine Gewohnheiten, denn sie werden dein Charakter. Achte auf deinen Charakter, denn er wird dein Schicksal. [Aus dem Talmud]
Ein in Meditation erfahrener Mann wurde einmal gefragt, warum er trotz seiner vielen Beschäftigungen immer so gesammelt sein könne. Dieser sagte: ‘Wenn ich stehe, dann stehe ich. Wenn ich gehe, dann gehe ich. Wenn ich sitze, dann sitze ich. Wenn ich esse, dann esse ich. Wenn ich spreche, dann spreche ich.’ Da fielen ihm die Fragesteller ins Wort und sagten: ‘Das tun wir auch, aber was machst du darüber hinaus?’ Er sagte wiederum: ‘Wenn ich stehe, dann stehe ich. Wenn ich gehe, dann gehe ich. Wenn ich sitze, dann sitze ich. Wenn ich esse, dann esse ich. Wenn ich spreche, dann spreche ich. Wenn ich bete, dann bete ich.’ Wieder sagten die Leute: ‘Das tun wir doch auch.’ Er aber sagte zu ihnen: ‘Nein. Wenn ihr betet, seid ihr schon wieder bei euren Geschäften. Wenn ihr sitzt, dann steht ihr schon. Wenn ihr steht, dann lauft ihr schon. Wenn ihr lauft, dann seid ihr schon am Ziel …’
Mit beiden Füßen fest auf dem Boden stehen – den eigenen Körper bemerken
Die folgende Übung richtet unsere Aufmerksamkeit auf unseren Körper. Meist nehmen wir es als selbstverständlich hin, dass er funktioniert. Und selbst wenn unser Körper signalisiert, dass er überfordert und erschöpft ist, ignorieren wir das im Allgemeinen. Erst wenn wir krank werden, schenken wir ihm vorübergehend Beachtung. Die folgende Übung der Aufmerksamkeit auf den Körper kann hier ein Gegengewicht bilden.
Sitzend weiß ich: Ich sitze
Wo und wie sitzt du im Moment, während du diese Zeilen liest? Was spürt der Rücken? Sind die Schultern entspannt? Wenn nicht, dann probiere deine Sitzhaltung so zu ändern, dass sie angenehm ist. Achte am heutigen Tag darauf, wie du sitzt!
Gehend weiß ich: Ich gehe
Wähle für folgende Übung einen Weg aus, den du täglich zu Fuß machst, beispielsweise zum Auto. Versuche darauf zu achten, wie du gehst: langsam oder schnell, eilig verkrampft oder entspannt? Spüre die einzelnen Schritte. Fühlst du, ob deine Schuhe hart oder bequem sind. Sind deine Füße warm oder kalt? Fühlst du dich wohl beim Gehen? Wenn möglich, ändere dein Tempo oder die Körperhaltung so, dass du dich wohl fühlst.
Wartezeiten nutzen
Musst du manchmal auf den Bus, beim Arzt, bei der Post oder an der Kasse warten? Anstatt ungeduldig von einem Fuß auf den anderen zu treten und nervös auf die Uhr zu schauen, könntest du solche Situationen auch nutzen: Achte auf die Umgebung und ihre Eindrücke: Welche Geräusche hörst du? Ist dir warm oder kalt? Blickst du finster drein? Beißt du die Zähne zusammen? Ist die Stirn gerunzelt?
Die Adventszeit gehört zu den besonders ausgefüllten Zeiträumen im Jahreskreis. Gerade in den vier Wochen vor Weihnachten ist daher die Sehnsucht nach Ruhe und Besinnung besonders groß. Doch gerade in dieser Zeit ist es eine große Herausforderung, dass wir die Welt, die uns umgibt mit allen Sinnen bewusst wahrnehmen: uns wundern über die Licht- und Schattenspiele am Morgen und Abend, über eine Musik, die uns tief berührt, über den Geschmack oder Duft einer Frucht. Diese Form von ‘erlebtem Glück’ möchte ich hier als ‘Achtsamkeit’ bezeichnen.
Achtsam sind wir nicht, wenn wir mehrere Dinge gleichzeitig oder automatisiert erledigen, wenn eingeschliffene Gewohnheiten uns steuern oder wir Lösungswege nur aus einer Quelle beziehen. Leicht verlieren wir so im Trubel des Alltags mit seinen vielfältigen Verpflichtungen und Ablenkungen die innere Ruhe. Denn:
‘Immer wenn wir glauben, etwas schon zu wissen, sind wir nicht mehr präsent.’
Der Adventskalender bietet 24 Impulse zum Thema ‘Achtsamkeit’ und kann uns dazu anregen, die unendliche Vielfalt um uns herum achtsam wahrzunehmen. Achtsam sein bedeutet, innere und äußere Vorgänge mit ungeteilter, entspannter Aufmerksamkeit zu beobachten und ‘das ganze Bild’ aufnehmen. Es geht dabei vor allem um ein Wahrnehmen, Erspüren, Loslassen – um zu einer Haltung der Gelassenheit zu finden. Ein Ort, wo dies besonders gut gelingt, ist die Wüste. Und so möchte ich in die Gedanken und Impulse des Adventskalenders auch immer wieder Fotos und Texte von diesem spirituellen Ort einweben.
‘Die wichtigste Stunde ist immer die Gegenwart, der bedeutendste Mensch ist immer der, der dir gerade gegenübersteht, das notwendigste Werk ist stets die Liebe.’ (Meister Eckehart)