12. Dezember

Schenk dir einen Wüstentag

‘Von Zeit zu Zeit braucht jeder Mensch ein Stück Wüste.’
(Sven Hedin)

Der Begriff des Wüstentages geht auf den französischen Ordensgründer Charles de Foucauld (1858 – 1916) zurück, auf den die Wüste Sahara Zeit seines Lebens eine magische Anziehungskraft ausübte. Nachdem er als französischer Soldat erstmals nach Nordafrika kam und die Wüste kennen lernte, ließ ihn dieses Land nicht mehr los. So bereiste er als Naturforscher die Wüste. Nach seinem Theologiestudium und Priesterweihe lebte er zurückgezogen unter den Tuaregs in der Sahara. Seine Spiritualität ist stark von der Wüste geprägt. In der Stille sammelte er seine Gedanken, betete und lebte auf seine Weise ein radikales Leben. Jahre nach seinem Tod gründeten Männer und Frauen die religiöse Gemeinschaft der Kleinen Brüder bzw. Der kleinen Schwestern, die seinem Beispiel auch heute noch folgen.
In der Wüste ist man verloren. Wer durch die Wüste geht, muss mit Durst, Trockenheit und Bedrohungen aller Art rechnen. So denken viele, wenn sie das Wort ‘Wüste’ hören. Jene, die der Wüste begegnet sind, berichten allerdings nicht selten von einem tief beglückenden und befreienden Naturerlebnis. Seit altersher ist die Wüste auch ein Ort der Lebenserneuerung. In der (scheinbaren!) Eintönigkeit dieser Landschaftsform kommt der Mensch zur Besinnung und Sammlung. Die Wüste fordert heraus und – sie macht nüchtern. Körper; Seele und Geist erleben eine Art Reinigung. Die Wüste konfrontiert den Menschen mit sich selbst. Wer in die Wüste geht, steht fast unwillkürlich vor der Frage, was dem Leben Bestand gibt. Angefangen bei den Wüstenvätern der ersten christlichen Jahrhunderte bis heute ist die Wüste ein Ort der Spiritualität, der Gottesbegegnung, der das Geheimnis des Lebens ahnen lässt. Wüste meint auch eine Wirklichkeit im Menschen selbst. Es ist ein Bild für das, was mit mir geschieht, wenn ich als Mensch unterwegs bin – zu einem sinnerfüllten Leben. Mensch werden zwischen Wüste und Oase. Ein ‘Wüstentag’ kann dazu verhelfen. Ich könnte mir von Zeit zu Zeit einen Besinnungs-Tag schenken, an dem ich Atem holen kann.

‘Ein einzig Bild der Schönheit ist die Düne. Die Wüste beschenkt, sie verändert dich. Gib dich hin, entsage, leide, kämpfe, durchquere die Wüste voller Durst, weise die Tränen zurück und so werde ich dir zur Entfaltung deiner selbst helfen.’ (Antoine de Saint-Exupery)

Wenn wir nicht von Zeit zu Zeit aus dem Zirkel der täglichen Verpflichtungen austreten, werden wir in unseren Bewegungen – seelisch und körperlich – steif. Der Blick auf unsere Umwelt ist immer der gleiche, das Welt-Bild verfestigt sich. Und mit der Zeit tun wir so, als wüssten wir, wie das mit dem Leben so ist. Ich schenke mir ganz allein einen Tag, an dem es nur darum geht, alltägliche Lebensvollzüge wie Gehen, Atmen, Essen neu zu lernen. Eine Art Leben in Zeitlupe. Um durchlässiger und aufnahmefähiger zu werden. Um besser erkennen und zu verstehen, wer ich bin und in welcher Umwelt ich lebe. Ich möchte den Spielraum meines Handelns und Gestaltens in dieser Welt neu sehen. Mag er auch noch so eingeschränkt sein – Veränderungen haben immer da angefangen, wo einzelne bewusst lebende Menschen die Möglichkeiten ihres Lebens erkannt und ausgeschöpft haben. Solange Menschen aufbrechen, den Weg unter die Füße nehmen und sich so verändern, um menschlicher zu leben, ist Hoffnung berechtigt.

Und so etwa kann dieser ‘Wüstentag’ aussehen (Anleitung von Bruno Dörig & Albin Muff):
Ich wähle einen Tag, an dem ich mich von Terminen und Verpflichtungen frei machen kann. Einen Tag, der ausschließlich dazu dienen soll, den Alltag anzuhalten, zur Ruhe zu kommen und über sich selbst, die eigenen Kraftquellen und über wesentliche Fragen im Leben nachzudenken. Dieser Tag kann eine spirituelle Erfahrung sein, die eng mit Wüste verbunden ist: Alleinsein mit sich selber, Stille aushalten und sich im Leben orientieren. Oft tut es gut, allein zu Fuß in der Natur unterwegs zu sein, auf einer längeren Wanderung sich mit seinen Gedanken auseinanderzusetzen. Beschränke dich auf einfaches Essen und nehme genügend zu Trinken mit. Verbringe den ganzen Tag im Schweigen und versuche möglichst wenig zu reden. Es soll MEIN Tag werden. Am Vorabend habe ich ein paar Dinge bereitgelegt: zum Essen etwas Brot, Käse, Äpfel; Bleistift und Papier; gutes Schuhwerk und Regenschutz. Am Morgen breche ich auf, ganz gleich, wie das Wetter ist. Ich verlasse meinen Wohnort und gehe über Land. Ohne festes Ziel, das ich erreichen muss. Ich habe nicht vor, eine Wanderung zu unternehmen um mich körperlich zu ertüchtigen. Es wird ein Tag werden, den ich wie in der Zeitlupe lebe. Ich gehe und freue mich, dass ich gehen darf. Ich atme und atme auf und atme tief durch. Es wird nichts Außergewöhnliches geschehen, ich besuche keine Sehenswürdigkeiten, aber ich bin dankbar, dass ich Augen habe, die sehen können und Hände und Füße, die tasten und fühlen. Die einfachen Dinge des Lebens. Das, was mich zum Menschen macht, soll heute ins Bewusstsein kommen: der aufrechte Gang, das Nachdenken und Mitfühlen, die Gelassenheit, das Lächeln und Verweilen. Ob ich das nötige Maß Langsamkeit aufbringe? Ich will es versuchen. Für ein paar Stunden bin ich weg von Menschen, bin bei mir selbst zu Gast um wieder ein ganzer Mit-Mensch zu sein.

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