13. Dezember

Das Nichts der Wüste ist ein Fest für unsere Sinne

Die Wüste lebt, das sage ich euch. Diese Leere, dieses Schweigen sind bewegter als Volksgedränge auf offenem Markt. (Antoine de Saint-Exupéry)

‘Globetrotter und von Fernweh Getriebene, abenteuerlustige, wissbegierige und eigenwillige Männer und Frauen sprechen über die Faszination und Symbolkraft der Wüste, Rätsel und Magie, Spiritualität, Glück und Angst, über die Sehnsucht nach dem Elementaren, dem Eigentlichen zwischen Himmel und Erde, über Spuren- und Sinnsuche dort, wo die scheinbare Abwesenheit von Leben den Blick auf das Wesentliche herausschält und die Wüste neben unermesslicher Anstrengung ein Fest für die Sinne wird: in klarer Luft riechen, den feien Sand durch die Finger gleiten lassen, spüren, wie die Sonne die Lippen trocknet und leichter Wind durch die Haare streicht, die feine Vielfalt der Farben sehen, die Dünen im Wind singen hören. Die Wüste, das ist ein Ort der Begegnung, von dem sich die einen wegträumen – nach farbenprächtigen Gärten und erquickenden Brunnen – und wohin sich die anderen sehnen: nach Leere und Stille.’ (Angela Kandt)

Aus dem Gang in die Wüste entwickelte sich bald eine Tugend, die Tugend der Wüstenväter und ihre Weisheiten. Die Sprüche der Wüstenväter waren von unerbittlicher Radikalität und von beispielloser Rigorosität. Sie formulierten elementare Weisheiten, die weniger von ihrem unverrückbaren Glauben inspiriert waren als von der Umgebung, in der sie lebten. Ihre einfachen und doch so radikalen Erkenntnisse waren von der Wüste beeinflusst und von dem Leben, das sie darin führten, fernab von jeglichem Luxus und jeglicher Zivilisation. Großen Wert legten die Väter in der Wüste vor allem auf die unbedingte Vereinzelung und die Abgewandtheit von allen Sinnesgenüssen, die sie in der Wüste vorfanden. Sie ergötzten sich jedoch an ihren neuen Sinneseindrücken, denn die Wüste ist ja nicht leer, und unsere Sinne erfahren nicht NICHTS. Es ist nur anders in der Wüste als in der Zivilisation. Was passiert mit unseren Sinnen, wenn wir in die Wüste gehen?

Wir gehen in die Wüste um zu sehen, was sie uns zu bieten hat, uns und unseren arg strapazierten Sinnen. Schönheit für die Augen, Stille für die Ohren, Leere für die Nase, Wärme und Sand für den Tastsinn, Trockenheit für den Mund, den einfachen Geschmack von ein wenig gebackenem Mehl und durststillendem Wasser. Das scheint nicht gerade verführerisch, außer ein bisschen Schönheit von Felsen und Sand hat uns die Wüste letztlich nichts zu bieten außer NICHTS.

‘Lerne, die Stille zu hören: Und das einzige, was du dann noch wahrzunehmen scheinst, ist dein Atem und dein Pulsschlag. Hör ihnen zu und bleib bei dem Sinneseindruck, den du empfindest, indem du nichts hörst.’

Was sehen wir? Wir sehen alles andere als nichts. Alle Wüstenformationen haben eines gemeinsam: Es fehlt jede Bewegung. Meistens fehlen sogar Wolken, die sich über den Himmel bewegen. Die einzige Veränderung, die wir wahrnehmen, ist die Veränderung der Farben im Laufe des Tages, die Veränderung der Schatten, der Wanderung von Sonne und Mond. Sieh hin und genieße, was du siehst, genieße, wie deine Augen endlich zur Ruhe kommen.
Ähnliches gilt für den Geruch: Die Wüste riecht nicht. Sand ist vollkommen geruchlos. Und schließlich umgibt uns in der Wüste die Erde. Nirgends spüren wir die Mutter Erde so direkt und unmittelbar wie in der Wüste. Der Sand und der Staub, auf dem wir sitzen, ist unser Lager am Tag wie bei Nacht. Je länger wir in der Wüste sind, desto näher sind wir der Erde, unserem Element, das uns näher ist als alle anderen Elemente. Geerdete Menschen sind nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen. Sie brauchen weniger, um sich komfortabel zu fühlen. Lass dich auf deine Erde ein, du wirst ein gutes Verhältnis zu ihr entwickeln können, du wirst ausgeglichener sein, geerdet, ruhend auf der Erde, deiner Erde.

‘Riechst du die Akazien?’ … Erst jetzt merke ich, dass ich den Duft schon eine ganze Weile in der Nase habe. ‘Entschuldigung’, sagte Sass, ‘ich habe ganz vergessen, dass ihr Europäer stärkere Gerüche gewöhnt seid. Die Wüste ist nicht so verschwenderisch.’ (Lieve Joris)

‘Und schließlich: Schweige! Wenn du die Möglichkeit hast, dir ein paar Tage zu nehmen für dich, wenn du den Mut hast, dich in die Wüste aufzumachen: Tu es einmal allein, du brauchst diese Erfahrung in deinem Leben. Stell dir vor, du wirst älter und hast nicht ein einziges Mal in deinem Leben erfahren, was es bedeutet, einige Tage nur mit dir selbst allein zu sein! Ein großer Verlust! Sei mit dir allein in der Wüste und schweige! Lausche, beobachte, rieche und spüre! Vor allem aber: Halte einfach mal den Mund! Du wirst wie neugeboren aus der Wüste hinausgehen. Das ist der Rat, den uns die Wüstenväter mitgeben.’ (Jürgen Werner)

Wer in der Wüste sitzt und die Herzensruhe pflegt, wird drei Kämpfen entrissen: dem Hören, dem Reden, dem Sehen. Er hat nur noch einen Kampf zu führen:
den mit dem Herzen.’ (Abbas Antonius)


‘Nicht Kulturen begegnen einander, sondern Gesichter, Gerüche, Stimmen’

Da die Wüste keinerlei greifbaren Reichtum bietet, da es in ihr nichts zu sehen, nichts zu hören gibt, drängt sich die Erkenntnis auf, dass der Mensch vor allem aus unsichtbaren Anreizen lebt, denn das innere Leben, weit entfernt davon, einzuschlafen, nimmt an Kräften zu. Der Mensch wird vom Geist geleitet. In der Wüste bin ich das wert, was meine Gottheiten wert sind.
Es gibt keine Ablenkungen, mit denen man sich davon mogeln könnte. Es gibt nur hohen blauen Himmel ohne eine Wolke, der in einer Atmosphäre ohne Luftfeuchtigkeit von Horizont zu Horizont reicht, ohne Übergänge. Es gibt das scharfe Licht, blendende Helligkeit ohne Farben. Es gibt den Sand, der tagsüber leblos ist, nur im Morgen- und Abendlicht Schatten bekommt, Konturen, Volumen und Farben. Es gibt den Wind. In diesen wenigen Parametern entwickelt sich das Schauspiel des Wenigen und Großen. Weil man Zeit hat. (Otl Aicher)

Ein Tropfen bin ich
‘Ein Tropfen im Ozean der Schöpfung, ein Sandkorn in der Wüstenweite und dennoch trage ich das Geheimnis des Wirkens so tief in mir, als dehnte ich mich ins Unendliche. Ich erlote, ertaste, erlebe mir mein Leben. Auf dieser Entdeckungsreise genieße ich Aussichten innerer Landschaft, die mir den Atem nehmen. Manchmal verliere ich meinen Orientierungssinn, fühle mich klein und verirrt wie ein Käfer in hohem Gras, aber genieße auch das und sorge mich nicht auf meinem Weg. Früher oder später zieht es mich unweigerlich dahin, wo die Freude am stärksten pulsiert und mich kunstvoll in ihren Rhythmus einwirkt. Tiefer als die tiefsten Gedanken geht das innere Schweigen. Besser als die besten Erkenntnisse ist die vollkommene Still im Geist. Schöner als die schönsten Bilder ist die nackte Leere des Bewusstseins, das Nichts, die Mittellosigkeit, denn das Leben versteht sich am tiefsten, erkennt sich am besten, erlebt sich am schönsten – unmittelbar.’ (Hans Kruppa)
‘Die Wüste ist eine Denklandschaft, man geht nicht nur zwischen Dünen, man geht auch in seinem eigenen Denken umher, man macht Gedankengänge, im Gehen verändert sich die Landschaft von Bild zu Bild. Es verändert sich auch der Gedankenhorizont. Das Auge zieht es mal hier, mal dort hin, auch die Gedanken wildern umher, man wirft sie hinaus, als Entwürfe. Worte, Gedanken und Bilder sind nur Begleiter bis zu der Tür, hinter der sich ein grenzenloser Raum auftut, in dem das Leben mit sich eins ist und sein ursprüngliches Wesen ungestört genießt.’ (Otl Aicher)

Verlasse ja nie die Wüste, denn die Wüste reinigt die Seele.
Fern von ihr bist du taub und blind. (Mano Dayak)

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